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Dornroeschenmord

Dornroeschenmord

Titel: Dornroeschenmord
Autoren: Anna Kalman
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Gwendolyn fort, und Edward hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie war, ob sie jemals zurückkehren würde und was dann geschähe.
    Auch Mandys Leben hatte sich geändert. Durch die Ereignisse war ihr bewußt geworden, wie naiv sie gehandelt hatte. Sie, die immer furchtlos gewesen war und sich über die Ängstlichkeit anderer mokiert hatte, wußte jetzt, welches Gefängnis die Angst in einem Leben bauen konnte. Andererseits fiel es ihr nicht schwer, Edwards zwiespältige Gefühle seiner Mutter gegenüber nachzuempfinden. Sie empfand Mitleid für Gwendolyn, trotz allem, was sie ihr und ihrer Freundin angetan hatte.
    Trotz der schweren Verletzung erholte Dorothee sich rasch. Im Laufe der Zeit gewann sie eine neue, lebensfrohere Einstellung. Sie sprach davon, häufiger auszugehen und daß es endlich Zeit würde, jemanden kennenzulernen. Zum ersten Mal gestand sie ihre Sehnsucht nach einem Menschen, der zu ihr gehörte, freimütig ein. Es war, als hätte sie durch das furchtbare Erlebnis begriffen, daß es in jedem Fall klüger war, ein Risiko einzugehen, als niemals etwas zu versuchen – selbst auf die Gefahr hin, etwas zu verlieren.

22
    Nach der Zeit ein Müller fand
    Ein Gerippe samt der Mützen
    Aufrecht an der Kellerwand
    Auf der beinern Mähre sitzen:
    Feuerreiter, wie so kühle
    Reitest du in deinem Grab!
    Husch! da fällts in Asche ab.
    EDUARD MÖRIKE
     
    Inzwischen war es März geworden. Helles Sonnenlicht kitzelte die Nasenflügel von Mandy, die träge und mit halbgeschlossenen Augen über die Mauerbrüstung der Terrasse sah. Der strahlende Glanz Madeiras lag zu ihren Füßen, der weite Atlantik ruhte in tiefstem Azurblau. Jenseits der Bucht thronte das zerklüftete Gebirge, und unterhalb der Terrasse stand eine große Zypresse, die wie ein grünes Schwert durch die dunklen Berge und das klare Blau des Meeres schnitt.
    Samtig-violette Stiefmütterchen umspielten Mandys Zehen. Keck neigten sie ihre Köpfchen im Wind, der sachte vom Meer herüberwehte, und für einen kurzen Augenblick hatte sie das Gefühl, sie nickten ihr wohlwollend zu. Der Anblick der Blumen ließ die Gedanken zurück in ihre Kindheit schweifen, und sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie mit sechs Jahren zum erstenmal an der alljährlichen Fronleichnams-Prozession hatte teilnehmen dürfen. Ihre Großmutter hatte ihr ein Körbchen ausschließlich mit Stiefmütterchen hergerichtet, und Mandy in ihrem weißen Kleid und dem Kränzchen im Haar hatte es kaum erwarten können, die Straße mit den Blüten zu schmücken. Kaum hatte sie die Stufen, die zum Kirchportal führten, hinter sich gelassen, als sie ihr Körbchen nahm und euphorisch seinen Inhalt mit einem Mal auf das Kopfsteinpflaster kippte.
    Mandy mußte schmunzeln, als sie daran dachte, wie enttäuscht sie vor dem lila Häufchen gestanden hatte, als ihr bewußt geworden war, daß sie für den Rest der Prozession kein einziges Blümchen mehr zum Streuen hatte. Sie hatte kompromißlos alles auf einmal gegeben, ohne daran zu denken, was später sein würde. Und wenn sie es recht bedachte, so hatte sich das nicht geändert, auch wenn sie heute keine Blumen mehr streute.
    Seit einer Stunde saß Mandy auf der Terrasse, doch inzwischen war sie so müde geworden, daß sie das Buch mit dem bemerkenswerten Titel »Schwein oder nicht Schwein – Von einem, der auszog, sich selbst zu finden« zur Seite gelegt hatte. Zuerst hatte Mandy mit der Lektüre gar nichts anfangen können. Erst als sie den Klappentext gelesen hatte, stellte sie fest, daß sich hinter dem Pseudonym Sigismund Pein niemand anderes als Heino Ruttlich verbarg.
    Mandy erinnerte sich noch gut daran, wie Cordula Schiller sich damals über sein spurloses Verschwinden aufgeregt hatte. Während alle Welt nach ihm fahndete, hatte sich Heino Ruttlich – um die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten und um endlich Bekanntschaft mit seinem wahren Selbst zu schließen – einer Lachtherapie in der Schweiz unterzogen und anschließend seine fundamentalen Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Buch niedergeschrieben. Der Tenor seines Werkes, das Schwein im Manne nicht zu schlachten, sondern es hochleben zu lassen, hatte so viel Begeisterung hervorgerufen, daß er schon nach kürzester Zeit die Bestsellerlisten stürmte. Trotz allen Ruhmes hatte er sein Faible für berühmte Zitate behalten und auf der ersten Seite ausgerechnet Virginia Woolf genannt: »Die Frau hat jahrhundertelang als Lupe gedient, welche die magische und köstliche
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