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Dornroeschenmord

Dornroeschenmord

Titel: Dornroeschenmord
Autoren: Anna Kalman
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größer bin. fetzt kenne ich nur ein Bild von ihr. Ich finde, sie war sehr schön.
     
    21. Mai 1945
    Papa ist nicht zu unserer Schulaufführung gekommen. Von allen anderen waren die Eltern da, nur von mir und Jessica Milford nicht. Aber ihre Mutter ist krank und konnte deshalb nicht kommen. Ich weiß nicht, warum Papa nie wissen will, was ich so mache. Manchmal denke ich, er schämt sich dafür, daß ich ein Mädchen bin. Aber das ist doch nicht meine Schuld. Außerdem hat Liza gemeint, daß unser Reitlehrer gesagt hat, ich könnte genausogut mit Pferden umgehen wie ein Junge. Und das hat sie auch zu Papa gesagt. Ich will jetzt aber nicht traurig sein, denn draußen scheint die Sonne, und Mark Stamfordham und ich wollen am Bach im Park einen Staudamm bauen.
     
    5. Juni 1945
    Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist etwas ganz Schreckliches passiert. Am liebsten würde ich von zu Hause weglaufen. Ich könnte mich in unserem Baumhaus verstecken, dann finden sie mich nicht, und er müßte alleine fahren. Ich will nicht nach Indien. Ich weiß ja nicht mal, wo das liegt. Und Liza darf nicht mit. Aber Papa muß dorthin für die Königin. Er ist jetzt Diplomat und hat gesagt, ich kann nicht in England bleiben. Die Stadt, wo wir hin sollen, hat einen komischen Namen: Tscheipur oder so ähnlich.
    Ich weiß gar nicht, warum Papa mich mitnehmen will. Er kümmert sich doch sonst auch nicht um mich. Er hat dieses fahr sogar meinen Geburtstag vergessen. Ich habe kein Geschenk von ihm bekommen. Ich kann ihn nicht leiden. Ich wünschte, er wäre tot, dann könnte ich bei Liza bleiben, und sie würde immer für mich sorgen. Ich weiß, daß sie traurig ist, wenn ich fortgehe. Gestern haben wir darüber gesprochen, und sie hat geweint.
    Aber heute hat sie gesagt, ich muß tapfer sein, und daß sie vielleicht nachkommt. Aber ich weiß, daß sie lügt. Erwachsene lügen immer, wenn sie nicht mehr wissen, was sie den Kindern sagen sollen.
     
    3. August 1945
    Seit einer Woche sind wir in Jaipur. Papa sehe ich hier noch weniger als in London. Aber ich bin darüber nicht mehr traurig. Wenn ich ihn sehe, redet er fast sowieso nichts mit mir. Also ist es auch egal, ob er da ist. Wir haben ein großes Haus und viele Diener, aber es gefällt mir überhaupt nicht. Ich kann die Leute nicht verstehen und sie mich auch nicht, und sie sind alle schwarz, und ich fürchte mich vor ihnen. Nur einer von ihnen, er heißt Sankara, kann ein bißchen Eng lisch, und er ist immer nett zu mir. Er ist auch nicht so schwarz wie die anderen, seine Haut sieht aus wie
    dunkler Honig, und sein Haar ist ganz kurz und weiß, und er hat einen Bart.
    Papa hat gesagt, daß Sankara eine Tochter hat, die bald zu uns kommt. Sita soll mein neues Kindermädchen sein. In Indien heißt das Ayah. Aber ich brauche überhaupt kein neues Kindermädchen. Ich habe doch Liza in England, und wenn Sita kommt, dann erlaubt Papa der Liza bestimmt nicht, zu uns zu kommen. Dabei habe ich solches Heimweh nach ihr, und ich weine jede Nacht. Manchmal kann ich überhaupt nicht schlafen, weil da so ein Schmerz ist, und dann wünsche ich mir, sie wäre da und nimmt mich in den Arm. Ich möchte mich so gern an sie kuscheln.
    Es wäre so schön, wenn jemand da wäre, der mich lieb hat. Aber da ist niemand, nur ein großes schwarzes Loch in mir, und das tut sehr weh. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll, aber es ist jede Nacht da. Es geht wohl erst weg, wenn Liza kommt, aber ich glaube, ich seh sie nie wieder. Heute habe ich einen Brief von ihr bekommen, und sie hat mich getröstet und mir gesagt, daß sie mich lieb hat und immer an mich denkt, aber wie soll ich das glauben, wenn ich es nicht sehe.
     
    Es war bereits tief in der Nacht, doch Mandy verspürte nicht die geringste Müdigkeit. Sie fraß sich geradezu durch die Tagebücher, und nachdem sie die ersten fünf Hefte gelesen hatte, empfand sie tiefes Mitgefühl für Edwards Mutter. Ihre Kindheit mußte trostlos gewesen sein. Ein einsames, kleines Mädchen, das sich nach nichts mehr gesehnt hatte als nach der Anerkennung und Zuneigung seines Vaters.
    Doch offenbar war ihr die verwehrt geblieben. Den Grund dafür hatte Gwendolyn schon früh erraten: Sie war nicht der ersehnte Sohn, den sich ihr Vater Hamish Cunningham, Earl of Stanhope, von seiner Frau erhofft hatte.
    Schon allein die Geschichte ihrer Ehe klang wie ein Groschenroman aus der damaligen Zeit. Wenn normal Sterbliche heirateten, spielten Liebe, Treue und Versorgtsein eine
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