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Dornroeschenmord

Dornroeschenmord

Titel: Dornroeschenmord
Autoren: Anna Kalman
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Regalwand, aus der sie die Niederschriften gezogen hatte. Verblüfft wandte sie sich Mandy zu.
    »Du hast mir nie davon erzählt, daß Edwards Mutter sich so ausführlich mit Naturheilkunde beschäftigt hat.«
    »Ich hatte offen gestanden keine Ahnung davon. Wie kommst du darauf?«
    »Na ja, sieh doch mal hier. Neben all den juristischen Fachbüchern gibt es jede Menge Literatur zu Themen wie Homöopathie, Ayurveda und chinesische Heilkunst.« Dorothee deutete auf mindestens drei Regalreihen.
    »Und wie kommst du darauf, daß sie Gwendolyn gehören?« Mandys Berufseifer war erwacht.
    »Ganz einfach, Miss Marple«, sagte Dorothee, die den professionellen Unterton in Mandys Stimme nicht überhört hatte. »In den Büchern steht ihr Name. Teilweise sogar noch ihr Mädchenname. Damit ist ja wohl klar, wem sie gehören.«
    »Seltsam«, murmelte Mandy. »Sie hat nie etwas darüber verlauten lassen. Eigentlich hat sie ohnehin kaum von sich oder ihrem vergangenen Leben erzählt. Unsere Gespräche waren meist nur langweilige und höfliche Konversation. Du weißt schon, über das Wetter, bei wem sie diniert hatte, und wenn sie ganz gesprächig war, dann haben wir uns auch mal über Politik unterhalten. Aber offensichtlich hat sie noch wesentlich mehr zu sagen«, meinte Mandy und deutete auf die Tagebücher.
    »Und was, das findest du am besten heraus, indem du die Aufzeichnungen liest.« Manchmal war Mandy von Dorothees kaltschnäuzigem Pragmatismus mehr als überrascht.
    »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein? Wenn Gwendolyn gewollt hätte, daß ich weiß, was in den Büchern steht, dann hätte sie sie mir zum Lesen gegeben.«
    »Wenn Gwendolyn gewollt hätte, daß niemand sie findet, dann hätte sie sie eben besser verstecken müssen. Außerdem brennst du doch selber darauf, herauszufinden, was die Alte zu verbergen hat. Und wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Heuchelei.«
    Mandy schmunzelte. Sie packte die Hefte zurück in die Buchhülle und schleppte sie, wie ein Fuchs seine Beute, in ihr Zimmer. Mit geradezu diebischer Freude dachte sie, daß sie sich an diesem Abend ein Drei-Sterne-Betthupferl zu Gemüte führen würde.
    Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit verschwand Mandy überraschend schnell nach dem Abendessen. Sie kuschelte sich behaglich in die Kissen und begann die Lektüre der Tagebücher, die Gwendolyn in ihrer Muttersprache verfaßt hatte. Mandy, die ein Jahr als Au-Pair-Mädchen in Boston verbracht hatte, konnte den Text mühelos übersetzen. Auf der ersten Seite des Heftes von 1945 standen in steiler Kinderschrift ein paar Zeilen in Versform:
     
    »We lay my love and I
    beneath a weeping willow
    but now alone I lie
    and weep beside the tree.
     
    Singing oh willow waly
    by the tree that weeps with me
    singing oh willow waly
    till my lover returns to me.«
     
    Bevor Mandy weiterlas, überlegte sie, was diese Strophen bedeuten könnten. Warum schrieb ein Mädchen von acht Jahren in so melodramatischer Manier von der verlorenen Liebe?
     
    5. Mai 1945
    Ich habe von einem Mädchen gelesen, das alles in ein Tagebuch schreibt. Ich finde, das ist eine gute Idee. Es ist immer jemand da, dem man alles sagen kann und der zuhört. Deswegen tue ich das jetzt auch.
    Liza hat gesagt, der Krieg ist bald aus. Und dann wird sie nicht mehr weinen. Sie hat so viel geweint, weil ihr Bruder mit dem Flugzeug nach Deutschland geflogen war. Liza hat hier in London immer Angst, sie schießen ihn ab. Ich habe jeden Abend gebetet, damit das nicht passiert. Ich mag nicht, wenn Liza weint.
     
    17. Mai 1945
    Papa hat nie Zeit für mich. Heute bin ich zu ihm gegangen und habe mich einfach auf seinen Schoß gesetzt, aber da hat er mich genommen und mich wieder auf den Boden gestellt. Er hat gar nichts gesagt, nur so komisch geguckt. Fast habe ich geweint, aber ich habe die Tränen gerade noch hinunterschlucken können. Dann bin ich hinausgegangen. Liza sagt, er hat soviel zu tun, weil er bald bei einem wichtigen Polospiel mitmacht. Liza hat gesagt, sogar die Königin schaut zu. Aber ich darf nicht mit. Ich freu mich für Papa und hoffe, er kommt zu unserer Schulaufführung. Wir spielen Cinderella, und ich bin dabei eine Maus. Cinderella hat auch keine Mutter mehr, genau wie ich. Aber Cinderella hat eine böse Stiefmutter, die gemein zu ihr ist. Da habe ich es viel besser, ich habe Liza. Sie ist meine Nanny, und ich habe sie sehr lieb. Sie hat mir versprochen, sie erzählt mir mehr von meiner richtigen Mutter, wenn ich
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