Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter
Autoren: Josephine Pennicott
Vom Netzwerk:
das?
    Dann schrie ihre Mutter auf, ein durchdringender Laut, der Thomasina zusammenfahren ließ. Der Teufel musste sich doch befreit haben! Der Schrei wurde schnell erstickt, doch dann drangen furchtbare, grunzende, zermalmende Geräusche aus den düsteren Tiefen des Kellers herauf. Angst breitete sich in jeder Zelle von Thomasinas Körper aus, aber sie musste trotzdem wissen, was der Teufel ihrer Mutter angetan hatte. Langsam schlich sie die Treppe hinunter und klammerte sich dabei am Geländer fest. Sie folgte den knurrenden, bestialischen Lauten. Mit klopfendem Herzen bewegte sie sich darauf zu. Ein Schritt nach dem anderen, jederzeit bereit zur Flucht, falls sich plötzlich etwas auf sie stürzen sollte. Im Gegensatz zu Marguerite, die sich nachts unter der Bettdecke versteckte, war Thomasina kein Feigling. Noch ein Schritt. Sie musste es sehen. Sie musste es einfach wissen.
    Im Dämmerlicht nahe der untersten Treppenstufe konnte sie einige schummrige Reihen eingelagerter Weinflaschen erkennen, außerdem große Packkisten und Gartenutensilien. Ihre Mutter lag in einem komischen Winkel auf einem hölzernen Tisch, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Über sie gebeugt stand der Teufel. Der Geruch von Blut lag in der Luft, und im Halbdunkel konnte Thomasina erkennen, wie der Teufel lange Stränge von etwas Schrecklichem aus dem Bauch ihrer Mutter zog. Die Grunzlaute des Teufels waren schauerlich: ein zufriedenes, falsches Geräusch. Mutters Körper zuckte und gab kleine Laute von sich, die für ihre Tochter keinen Sinn ergaben. Und dann, tief unten in der Mauer hinter dem Teufel, erblickte Thomasina ein weiteres Gesicht in der Dunkelheit. So klein, blass und verängstigt war es, dass Thomasina sich in ihrem verstörten Zustand nicht sicher war, ob es vielleicht einem Tier oder sogar einer Stachelranken-Frau gehören könnte.
    Nahezu bewegungsunfähig vor Schock kroch Thomasina langsam wieder die Treppe hinauf, eine Stufe nach der anderen. Sie erreichte das Licht, die Speisekammer, die Küche, die Hintertür.
    Draußen im Garten pinkelte sie hinter einen Busch. Wenn Marguerite sie gesehen hätte, würde sie bestimmt damit drohen, es Mutter zu erzählen, aber dazu war es zu spät. Ihre Petzschwester spielte immer noch Babyspiele im Garten und hatte keine Ahnung, was mit Mutter passiert war. Thomasina fragte sich, was sie wegen des Teufels unternehmen sollte, der im Keller ihre Mutter fraß. Was konnte sie tun? Marguerite wäre ihr keine Hilfe: eine lächerliche Heulsuse, die schon wegen Ameisen und Echsen zu schreien anfing. Thomasina wusste, dass ihre Mutter tot war. Statt Trauer hatte sie bloß das Gefühl, von einer großen Wolke ausgefüllt zu sein. Als wäre ihr der dichte Nebel, der sich über die Stadt gelegt hatte, irgendwie durch die Knochen und ins Gehirn gekrochen. Ein Teil von ihr wusste, dass sie trauriger sein sollte, aber sie musste dauernd an Mutters Spott denken, an die vielen Sticheleien und Prügel, die sie hatte ertragen müssen, während Marguerite immer verhätschelt wurde. Nein! Sie würde um jemanden, der Angel fortgeschickt und Daddy so unglücklich gemacht hatte, keine Träne vergießen. Jetzt musste er nicht mehr gehen. Es ist mir ganz egal. Jetzt kann ich tun, was ich will. Ich werde alleine im Haus wohnen und für Daddy kochen . Thomasina hatte sich ihre Mutter oft tot gewünscht, und nun war sie es tatsächlich. Niemand würde sie mehr schikanieren, und sie würde auch nicht mehr dem Klappern dieser blöden Schreibmaschine lauschen müssen. Es würde still sein im Haus ohne Mutters heftige Stimmungsschwankungen, und Thomasina würde endlich ihre eigenen Gedanken hören können und ihre eigenen Geschichten erzählen.
    Und dann erstarrte sie vor Schreck. Der Geist, den sie am Abend der Party gesehen hatte, stand auf einmal im Garten und sah sie an. Irgendwie war er durch den Nebel aus dem Nichts aufgetaucht. Er starrte ihr direkt ins Gesicht, so dass sie automatisch einen Schritt zurück trat. Er war so blass, wie sie ihn in Erinnerung hatte, mit dunklen Haaren und Augen. Er lächelte Thomasina an wie ein Hund, der die Zähne bleckt. Marguerite, ganz in der Nähe, bemerkte die Anwesenheit des Geistes nicht einmal. Verzweifelt versuchte Thomasina die Augen zu schließen und sich einzureden, dass er nicht da war, wenn sie ihn nicht sehen konnte. Die liebe Angel hatte ihr diesen Trick beigebracht, bevor sie fortgelaufen war. Die schöne Angel mit ihrem goldenen Haar und der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher