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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman
Autoren: script5
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nicht nur, um Tessa zu töten. Ich brauchte ihn auch, um Papa zu finden.
    Und ich brauchte ihn für mich. Für meine Seele. Wieder konnte ich ein Seufzen nicht unterdrücken, denn in meine Sehnsucht mischten sich Unruhe und Angst. Ich war mir selbst ein Rätsel.
    »Kennst du sie?«, wollte Mama wissen und tat so, als habe sie von meinen Gefühlswallungen nichts bemerkt.
    »Ja«, erwiderte ich. Ich klang nun deutlich genervt; eine Stimmung, die mir lieber war als Enttäuschung und Ratlosigkeit. Von hier oben hatte ich Gianna Vespucci und ihren verlotterten Kleinwagen sofort erkannt. Warum sie allerdings in der Hocke auf dem Kopfsteinpflaster unserer Auffahrt kauerte, die Stirn auf die Unterarme gelegt und die Haare nur knapp über dem Boden, leuchtete mir nicht ein. Unseren Nachbarn sicherlich auch nicht, die diese kuriose Szenerie garantiert schon sensationsgierig unter die Lupe nahmen. Spätestens heute Abend würde Giannas Ankunft zum neuesten Dorftratsch gehören – wie alles, was wir Sturms taten oder nicht taten. Auf der Beliebtheitsskala befanden wir uns nur noch knapp über der versoffenen Ponybesitzerin, die gerade wieder ihren Führerschein verloren hatte und spätabends gerne in ihrer Wohnung randalierte, bösen Gerüchten zufolge sogar ihren Mann verprügelte. Weder soffen noch randalierten wir, doch wir hatten einen fortgelaufenen Vater und eine äußerst unkonventionelle Mutter, die sich ab und an mit meinem Biologielehrer zum Yoga traf und in Bonn für ein Kunstgeschichtestudium eingeschrieben hatte, obwohl sie sich doch eigentlich langsam auf ihre Großmutterzeit vorbereiten sollte. Wir waren nicht Mitglied im Schützen- und auch nicht im örtlichen Fußballverein geworden und im Winter hatten wir nur sporadisch Schnee geschippt. All das genügte, um in einem 400-Seelen-Dorf in Ungnade zu fallen und an den Rand der Gesellschaft gerückt zu werden. Dass nun eine junge Frau samt Katzentransportbox auf unserer Einfahrt hockte und sich wimmernd vor- und zurückwiegte, war da nur Öl im Feuer.
    »Eine Freundin von dir?«, fragte Mama vorsichtig. Sie kannte sich schon lange nicht mehr in meinem Bekanntenkreis aus. Zu meinen früheren besten Freundinnen hatte ich den Kontakt radikal abgebrochen. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Auch Maike und ich waren geschiedene Leute. Lediglich Tillmann war mir geblieben. Er befand sich momentan jedoch bei Paul in Hamburg und ließ sich von Dr.   Sand wegen seiner chronischen Schlaflosigkeit untersuchen.
    Tillmann hatte mich gefragt, ob ich mitkäme, doch ich fürchtete die Speicherstadt, wollte nicht wieder an jenen Platz zurückkehren, an dem ich mich in Todesangst auf dem Boden gewunden hatte, getreten und gedemütigt von meinem eigenen Freund. Ich hatte nicht sofort abgelehnt – schließlich war es möglich, dass Dr.   Sand mir bei meinen Recherchen behilflich sein konnte. Aber dann entschied ich mich anders. Ich schätzte Dr.   Sand als jemanden ein, der gerne die Regie übernahm und mich zudem wie eine Art Tochter betrachtete. Wenn ich ihn einweihte, würde er mich keinen Schritt mehr allein gehen lassen und schon gar nicht würde er es dulden, dass ich alles daransetzte, einen Mahr zu töten. Dazu fühlte er sich meinem Vater zu sehr verpflichtet. So hatte ich auch Tillmann eingebläut, ihm ja nichts von unserem Vorhaben anzudeuten. Aber Tillmann pflegte momentan sowieso wieder eine seiner Rückzugsphasen, in denen er lieber stumm blieb, als seine Gedanken mit mir oder einem anderen Menschen zu teilen. Erst wenn er mit seinen Schlussfolgerungen im Reinen war, setzte er zu epischen Lehrervorträgen an. Ich kannte dieses Phänomen schon, was aber nicht hieß, dass ich es klaglos hinnehmen konnte. Ich wusste, dass er nachdachte, viel nachdachte, vielleicht ebenso viel wie ich. Aber er weigerte sich, mich in seinen Kopf schauen zu lassen. Wir überlegten und recherchierten seit Wochen getrennt vor uns hin – was sollte das für einen Sinn haben? Es war nicht effektiv. Doch Tillmann zum Reden zu drängen, endete stets mit noch verbissenerem Schweigen seinerseits. Und so hatte ich ihn ziehen lassen. Allerdings war sein Besuch bei Dr.   Sand auch mir wichtig. Ich wollte endlich wissen, was mit ihm geschehen war und warum er nicht mehr schlief.
    Nebenbei half Tillmann Paul, seine Altlasten zu beseitigen oder wahlweise zu Geld zu machen. Sein Vater hatte ihm dies widerstrebend gestattet, nachdem Paul ihm ein lobhudelndes Zeugnis über sein »Praktikum« in der
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