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Dornen der Leidenschaft

Dornen der Leidenschaft

Titel: Dornen der Leidenschaft
Autoren: Ma2
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hauste.
    Deshalb hatte Aurora bis zum heutigen Tag niemandem von der Erscheinung des jungen Mannes erzählt, der sie ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch in gewissen Abständen immer wieder besucht hatte und im Lauf der Jahre genau wie sie älter geworden war.
    Um ihrer Befürchtungen wegen ihrer geistigen Gesundheit Herr zu werden, hatte sie schließlich angenommen, daß er ihr Schutzengel sei und daß deshalb nur sie ihn sehen könne. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Sie nahm an, daß sie vielleicht den siebten Sinn hatte. Schließlich wäre sie nicht die erste in der Familie, die dieses alte Zigeunertalent besaß. Aber seit einiger Zeit war sie sich nicht einmal darüber mehr sicher. Die Visionen schienen nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit angesiedelt zu sein, in längst vergangener Zeit in Spanien. Der Mann war immer merkwürdig angezogen, einer Mode entsprechend, die vor mehreren Jahrhunderten vorgeherrscht hatte. Sie konnte sich darauf keinen Reim machen.
    Aber sie befürchtete nicht mehr, verrückt zu sein. Sie war so gesund wie alle anderen auch. Ganz bestimmt. Es mußte eine andere Erklärung für den Mann geben, der sie auf den Schwingen der Zeit besuchte. Es mußte eine Erklärung geben!
    Aurora wandte sich vom Fenster ab. Sie konnte die Bürde ihrer geheimen Visionen nicht mehr länger tragen. Sie würde ihre Großmutter besuchen und abuela von dem Mann erzählen, der sie seit so vielen Jahren beschäftigte. Abuelas eigene Großmutter war eine Zigeunerin gewesen, die die Gabe des siebten Sinnes an ihre Enkelin vererbt hatte. Ja, Aurora würde abuela erzählen, was immer wieder seit ihrer Kindheit passiert war. Vielleicht würde ihr abuela die Karten lesen und ihr wahrsagen. Und Aurora würde endlich verstehen, warum ein Mann, den außer ihr niemand sehen konnte, sie alle diese Jahre hindurch besucht hatte. Sie mußte endlich Gewißheit haben, denn sein Einfluß auf sie war so stark, daß ihr das wirkliche Leben immer gleichgültiger wurde.
     
    Die Herrin des alten und stolzen Hauses von Montalbán, Doña Gitana Navarra de Montalbán, verwitwete Condesa de Quimera, saß ruhig am Tisch in ihrem Zimmer. Sie war eine alte Frau, aber sie war schön gealtert. Ihre Haltung war die einer Königin. Aurora, die jetzt neben ihr saß, hatte noch nie gesehen, daß sie sich an einem Stuhl anlehnte. Ihre kohlschwarzen Augen glitzerten nachdenklich, als sie die Karten mischte, die sie kurz zuvor aus einem schön geschnitzten kleinen Holzkästchen genommen hatte.
    Obwohl Doña Gitana nur selten das Stadtpalais in Madrid verließ, interessierte sie sich doch intensiv für alles, was ihre Lieben anging. Deshalb hatte sie auch gleich zugestimmt, als Aurora in ihr Zimmer gekommen war und sie gebeten hatte, ihr die Karten zu legen. Schließlich war das junge Mädchen schon sechzehn Jahre alt. Es war Zeit, daß sie erfuhr, was die Zukunft ihr bringen würde.
    Die alte Frau machte sich Sorgen über das, was ihre Enkelin ihr eben erzählt hatte, obwohl sie jetzt vieles besser verstand. Kein Wunder, daß Aurora bislang kein Interesse gezeigt hatte, einen Liebsten zu finden. Kein lebendiger Mann konnte dem Mann ihrer Träume das Wasser reichen. Vielleicht war dieser Mann auch Auroras Schutzengel, aber Doña Gitana glaubte das eigentlich nicht. Der Schutzengel erschien meistens nur in besonders schwierigen Zeiten, wenn seine Führung wirklich not tat. Und ganz bestimmt lachte er nicht, aß keine Orangen und unternahm keine Ausritte mit seiner Schutzbefohlenen. Nein, das konnte nicht sein. Das, was Aurora ihr erzählt hatte, klang auch nicht nach dem siebten Sinn, dieser Gabe – oder diesem Fluch –, die sie selbst besaß. Alles, was Aurora ihr erzählt hatte, schien tatsächlich eher aus der Vergangenheit zu stammen als aus der Zukunft. Und diese Vergangenheit war natürlich nicht Auroras eigene – wenigstens nicht in diesem Leben.
    Aber Doña Gitana glaubte keinen Augenblick, daß ihre Enkelin verrückt war. Und wenn Auroras Schicksal tatsächlich etwas mit einer weit vergangenen Zeit zu tun hatte, dann mußte eine starke Kraft mit im Spiel sein.
    Jetzt hatte Doña Gitana die Karten gut genug gemischt. Sie legte sie auf den Tisch, so wie sie es von ihrer eigenen Großmutter gelernt hatte. Mit der einen Hand hielt sie den silbernen Knauf ihres Spazierstockes umfaßt, mit der anderen strich sie sich über die Augen und flüsterte leise vor sich hin.
    »Was ist los, abuela, was siehst du?« fragte
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