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Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)

Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)

Titel: Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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verlassen. Aase weiß einen Moment lang nicht, was sie machen soll. Sie
schaut verlegen zu dem Mann hinauf, starrt auf seinen ziemlich großen Adamsapfel.
Er lächelt sie an, hat dabei ein leichtes Zucken um den Mundwinkel, ihre Blicke
verhaken sich, und das Mädchen schlägt schamhaft die Augen nieder.
    »Das ist
der Feind! Du darfst nicht hier sein«, spricht eine mahnende Stimme. Das Mädchen
stürmt Hals über Kopf zur offenen Tür hinaus.
    »Ein guter
Däne steht nicht mit dem Feind in einem Raum«, hat der Vater einmal beim Abendbrot
gesagt.
    Erst an
der nächsten Ecke bleibt Aase stehen. Sie sieht das Gesicht des Feindes vor sich,
während ihr Herz laut klopft. Eigentlich war der Soldat ganz freundlich, denkt sie,
dieser Feind, der einfach so in den Laden gekommen ist. Noch weiß sie nicht, dass
ihr dieser Mann in den nächsten Jahren öfter begegnen und zum Mörder ihrer Seele
werden wird. Im Moment ist Aase stolz auf sich. Sie hat es ihm gezeigt, diesem Deutschen,
der nicht in dänischen Läden einkaufen sollte, denn in Hansted weiß bereits jedes
Kind, die Deutschen, das sind die Feinde Dänemarks.
    Direkt vor
dem Laden hat sich ein kleiner Ausnahmezustand gebildet. Die Frauen stehen demonstrativ
mit dem Rücken zur Eingangstür und warten. Erst als der Soldat mit Keksen und Schokolade
wieder herauskommt, gehen alle wieder hinein, bis auf Aase. Die bleibt an der Hausecke
in sicherer Entfernung stehen. Ahnungsbang verfolgt ihr Blick das Grau der Uniformjacke,
die nicht grün ist, wie die Uniformen, die Aase bereits kennt. Der Soldat setzt
seine Mütze auf, ihr schwarzer Schirm glänzt in der Sonne. Er geht mit kräftigen
Schritten über die Straße, sie kann jeden davon hören. Die Kameraden des Soldaten
winken ihm zu, noch bevor er den Lagerplatz erreicht. Das Mädchen hört Lachen und
fröhliche Stimmen, die »Herr Leutnant« rufen, und sieht die Männer nach den Keksen
und der Schokolade greifen, die der Feind in den Händen trägt.
    »Aase!«,
ruft eine Stimme aus dem Laden, doch Aase hört die Stimme von Herrn Rosen nicht.
    In ihrem
Kopf brummt ein Flugzeug, ein großes Flugzeug. Es fliegt niedrig über die Reetdächer
des Fischerdorfes. Es ist der 9. Mai 1940, ihr zwölfter Geburtstag vor einem Jahr.
Sie hat noch nie solch ein Flugzeug gesehen. Jemand sagt, es sei ein deutsches Transportflugzeug,
eine Ju-52. Es fliegt sehr niedrig, die breiten Flügel streifen fast die Schonsteine
der Häuser, aus denen Frauen und Männer stürzen und zum Himmel hinaufschauen. Das
silberne Ungetüm kommt langsam näher, am Heckflügel prangt ein schwarzes Hakenkreuz
auf kreisrundem Weiß. Und es fallen Schneeflocken vom Himmel, große Flocken, die
immer größer werden, je weiter sie zur Erde herunterschweben. Aase strahlt vor Freude,
reckt ihre Hände nach oben. Sie glaubt fest daran, dass die Flocken wegen ihres
Geburtstags vom Himmel fallen. Ein besonderes Geschenk vom Vater, von der Mutter
und ihrem Bruder. Aber das stimmt nicht. Mit lautem Gedröhne saust der Flieger über
ihre Köpfe hinweg, und aus dem Schnee wird Papier, bedrucktes Papier, das ihnen
vor die Füße weht. Ihr großer Bruder ballt eine Faust zum Himmel, brüllt dem Flieger
hinterher: »Scheißkerle! Verschwindet aus Dänemark!«
    Mutter zuckt
zusammen und schimpft den Bruder aus, so etwas vor dem Mädchen zu sagen. Aase ist
tief enttäuscht, dass keine Geschenke für sie vom Himmel gefallen sind.
    OPROP! –
Til Danmarks Soldater og Danmarks Folk!, steht in großen Buchstaben auf den Zetteln.
Der große Bruder hebt einen vom Boden auf und liest mit lauter, verächtlicher Stimme
vor: »Achtung – für Dänemarks Soldaten und Dänemarks Volk.« In einem merkwürdigen
Gemisch aus Dänisch, Norwegisch und Deutsch wird im Text bekannt gegeben, dass die
Deutschen gekommen sind, um die Dänen vor den Engländern und Franzosen zu beschützen,
dass alle Dänen die Ruhe bewahren und ihr Leben normal weiter führen sollen.
    Die Mutter
beißt sich auf die Lippen und hält die Tränen zurück. Der Vater steht mit trüben
Augen und beklemmendem Schweigen neben ihr. Der Bruder flucht leise vor sich hin.
Aase hat das Gefühl, dass alle ganz erschrocken sind und Angst haben. Von da an
hat sie selbst Angst, Angst vor ihrem nächsten Geburtstag und vor den schrecklichen
Geschenken, die dann wieder vom Himmel fallen könnten. Doch was Angst wirklich ist,
weiß sie noch nicht und auch nicht, wer die Angst hierher gebracht hatte.
    Die Engländer?
    Die Franzosen?
    Oder
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