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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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Wort voll gänzlicher Hingabe, mit dem sie ihn anredete, um nicht die Worte »Onkel« oder »Pate« gebrauchen zu müssen, die sie dumm fand, war zum erstenmal eine Flamme des Aufbegehrens spürbar, der Anspruch eines Wesens auf sein Recht – eines Wesens, das sich wieder auf sich selbst besinnt und sich behauptet.
    Vor ungefähr zwei Stunden hatte sie das genau und brav gezeichnete Abbild der Stockrosen beiseite geschoben und eine ganze Traube von Phantasieblüten, von überspannten und herrlichen Traumblüten auf ein anderes Blatt Papier geworfen. So etwas gab es mitunter bei ihr: ein sprunghaftes Wechseln, ein Bedürfnis, inmitten der genauesten Wiedergabe in irre Phantasien zu enteilen. Sofort verschaffte sie sich Befriedigung, vertiefte sich von neuem in diese wundersame Blütenpracht mit einem solchen Begeisterungsschwung, einem solchen Einfallsreichtum, daß sie sich niemals wiederholte, und sie schuf Rosen mit blutenden Herzen, die Schwefeltränen weinten, Lilien, die kristallenen Urnen glichen, ja sogar Blüten von gänzlich unbekannter Gestalt, die Sternenstrahlen aussandten und Blumenkronen wie Wolkenschleier flattern ließen. An diesem Tage sah man auf dem mit großen schwarzen Kreidestrichen wie mit Säbelhieben bearbeiteten Blatt einen Regen blasser Sterne, ein wahres Geriesel unendlich lieblicher Blütenblätter, während sich in einer Ecke ein unnennbares Erblühen, eine Knospe mit keuschen Schleiern auftat.
    »Wieder ein Bild, das du mir da hinnageln wirst!« fuhr der Doktor fort und zeigte auf die Wand, an der sich bereits ebenso seltsame Pastellgemälde aneinanderreihten. »Aber was soll das denn darstellen? frage ich dich.«
    Sie blieb sehr ernst, beugte sich zurück, um ihr Werk besser betrachten zu können.
    »Ich weiß nicht, es ist einfach schön.«
    In diesem Augenblick kam Martine herein, ihr einziges Dienstmädchen; in den ungefähr dreißig Jahren, die sie bei Doktor Pascal im Dienst stand, war sie die wahre Herrin des Hauses geworden. Obwohl schon über sechzig, wirkte auch sie noch jung, rührig und schweigsam. In ihrem ewigen schwarzen Kleid und mit der weißen Haube sah sie wie eine Nonne aus mit ihrem bleichen, ruhigen kleinen Gesicht, in dem die aschfarbenen Augen erloschen zu sein schienen.
    Sie redete nicht, sie setzte sich vor einem Sessel, dessen alter Bezug einen Riß hatte, so daß das Roßhaar herausquoll, auf den Fußboden, zog eine Nadel und ein weißes Wollbündel aus ihrer Tasche und fing an, den Bezug auszubessern. Seit drei Tagen wartete sie darauf, eine Stunde erübrigen zu können, um diese Ausbesserung vorzunehmen, die ihr keine Ruhe ließ.
    »Da Ihr gerade hier seid, Martine«, rief Pascal scherzend und nahm den aufbegehrenden Kopf Clotildes in seine beiden Hände, »näht mir doch auch dieses Köpfchen hier wieder zusammen, das ebenfalls Risse hat.«
    Martine blickte mit ihren blassen Augen auf und sah ihren Meister mit ihrer üblichen verehrungsvollen Miene an.
    »Warum sagen Sie mir das, Herr Doktor?«
    »Weil ich glaube, meine alte Gute, daß Ihr mit Eurer ganzen Frömmigkeit in dieses hübsche kleine klare feste runde Köpfchen Ideen von der anderen Welt hineingestopft habt.«
    Die beiden Frauen tauschten einen Blick des Einverständnisses.
    »Oh, Herr Doktor, die Religion hat noch nie jemandem Böses getan … Und wenn man nicht dieselben Vorstellungen hat, dann ist es sicher besser, gar nicht erst darüber zu reden.«
    Ein verlegenes Schweigen trat ein. Das war die einzige Meinungsverschiedenheit, die mitunter zu Streitigkeiten zwischen diesen drei Wesen führte, die einander so verbunden waren, die so innig zusammen lebten. Martine war erst neunundzwanzig Jahre alt gewesen, ein Jahr älter als der Doktor, als sie bei ihm in Dienst getreten war, zu jener Zeit, da er als Arzt in Plassans in einem kleinen hellen Haus der Neustadt seine Praxis eröffnete. Und als dreizehn Jahre später Saccard, ein Bruder Pascals, ihm nach dem Tode seiner Frau seine siebenjährige Tochter Clotilde aus Paris schickte, zu dem Zeitpunkt, da er sich wieder verheiratete, war Martine es gewesen, die die Kleine aufzog, sie in die Kirche mitnahm und ein wenig von der frommen Glut auf sie übertrug, die immer in ihr gebrannt hatte; der Doktor, der darin großzügig dachte, ließ die beiden zu ihrer Glaubensfreude gehen, denn er fühlte sich nicht berechtigt, irgend jemandem das Glück des Glaubens zu verbieten. Er begnügte sich später damit, Clotildes Erziehung zu beaufsichtigen und
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