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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus
Autoren: Thomas Mann
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das Ansinnen des eigenen Sohnes in Schutz zu nehmen.
    Wie oft mag der Lindenbaum den frühkindlichen Tagesschlummer und die Spiele des kleinen Adrian beschattet haben, der, als im Jahre 1885 Blütezeit war, im Oberstock des Buchelhauses als zweiter Sohn des Ehepaars Jonathan und Elsbeth Leverkühn geboren wurde. Der Bruder, Georg, jetzt längst der Wirt dort oben, stand ihm um fünf Jahre voran. Eine Schwester, Ursel, folgte in dem gleichen Abstande nach. Da zu der Freund- und Bekanntschaft, die Leverkühns in Kaisersaschern besaßen, auch meine Eltern gehörten, ja, zwischen unseren Häusern seit {23} alters ein besonders herzliches Vernehmen bestand, so verbrachten wir in der guten Jahreszeit manchen Sonntagnachmittag auf dem Vorwerk, wo denn die Städter sich der herzhaften Gaben des Landes, mit denen Frau Leverkühn sie regalierte, des kernigen Graubrotes mit süßer Butter, des goldenen Scheibenhonigs, der köstlichen Erdbeeren in Rahm, der in blauen Satten gestockten, mit Schwarzbrot und Zucker bestreuten Milch, dankbar erfreuten. Zur Zeit von Adrians, oder Adri's, wie er genannt wurde, erster Kinderzeit, saßen seine Großeltern dort noch auf dem Altenteil, während die Wirtschaft schon ganz in den Händen des jüngeren Geschlechtes lag und der Alte, übrigens ehrerbietig angehört, sich nur noch am Abendtisch zahnlosen Mundes räsonierend in sie einmischte. Von dem Bilde dieser Vorgänger, die bald fast gleichzeitig wegstarben, ist mir wenig geblieben. Desto deutlicher steht mir dasjenige ihrer Kinder Jonathan und Elsbeth Leverkühn vor Augen, obgleich es ein Wandelbild ist und im Verlauf meiner Knaben- und Schüler-, meiner Studentenjahre mit jener wirksamen Unmerklichkeit, auf welche die Zeit sich versteht, aus dem Jugendlichen in müdere Phasen hinüberglitt.
    Jonathan Leverkühn war ein Mann besten deutschen Schlages, ein Typ wie er in unseren Städten kaum noch begegnet und gewiß nicht unter denen zu finden ist, die heute unser Menschentum mit oft denn doch beklemmendem Ungestüm gegen die Welt vertreten, – eine Physiognomie, wie geprägt von vergangenen Zeiten, gleichsam ländlich aufgespart und herübergebracht aus deutschen Tagen von vor dem Dreißigjährigen Kriege. Das war mein Gedanke, wenn ich ihn, heranwachsend, mit schon halbwegs zum Sehen gebildetem Auge betrachtete. Wenig geordnetes aschblondes Haar fiel in eine gewölbte, stark zweigeteilte Stirn mit vortretenden Schläfenadern, hing unmodisch lang und dick aufliegend in den Nacken und ging am wohlgebildeten, kleinen Ohr in den gekrau {24} sten Bart über, der blond die Kinnbacken, das Kinn und die Vertiefung unter der Lippe bewuchs. Diese, die Unterlippe, trat ziemlich stark und geründet unter dem kurzen, leicht abwärts hängenden Schnurrbart hervor, mit einem Lächeln, das außerordentlich anziehend mit dem etwas angestrengten, aber ebenfalls halb lächelnden, in leichter Scheuheit vertieften Blick der blauen Augen übereinstimmte. Die Nase war dünnrückig und fein gebogen, die unbebartete Wangenpartie unter den Backenknochen schattig vertieft und selbst etwas hager. Den sehnigen Hals trug er meist offen und liebte nicht städtische Allerweltskleidung, die auch seiner Erscheinung nicht wohltat, besonders nicht zu seinen Händen paßte, dieser kräftigen, gebräunten und trockenen, leicht sommersprossigen Hand, mit der er die Stockkrücke umfaßte, wenn er ins Dorf zum Gemeinderat ging.
    Ein Physikus hätte einer gewissen verschleierten Bemühtheit dieses Blickes, einer gewissen Sensitivität dieser Schläfen vielleicht eine Neigung zur Migräne angemerkt, der Jonathan allerdings unterlag, aber nur in mäßigem Grade, nicht öfter als einmal im Monat für einen Tag und fast ohne Berufsstörung. Er liebte die Pfeife, eine halblange, porzellanene Deckelpfeife, deren eigentümliches Knaster-Arom, weit angenehmer als stehengebliebener Zigarren- und Zigarettendunst, die Atmosphäre der unteren Räume bestimmte. Er liebte dazu als Schlaftrunk einen guten Krug Merseburger Bieres. An Winterabenden, wenn draußen sein Erb und Eigen verschneit ruhte, sah man ihn lesen, vornehmlich in einer umfangreichen, in gepreßtes Schweinsleder gebundenen und mit ledernen Spangen zu verschließenden Erb-Bibel, die um 1700 mit herzoglicher Befreiung zu Braunschweig gedruckt worden war und nicht nur die »Geist-reichen« Vorreden und Randglossen D. Martin Luthers, sondern auch allerlei Summarien, locos parallelos und jedes Kapitel erläuternde
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