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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy
Autoren: Eva Hornung
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noch allerlei Gezwitscher und Geschepper, Gedröhn und Geknatter zu hören. In der Nähe krächzten Raben, kreischten Möwen, schwoll der Motorenlärm an und ab; in der Ferne ertönte das ständige Tosen der großen Autobahn. Natalja war sich nicht sicher, ob sie das, was sie inmitten des ganzen Lärms suchten, nicht vielleicht überhört hatten.
    »Versteh doch, Dimitri! Wir werden zu Hunden, um ihn behalten zu können!«
    »Also spüren wir sie auf«, sagte Dimitri lachend und ließ kurz seine Nase los. Er erinnerte sich wieder an eine Bemerkung, die Natalja gemacht hatte, als ihnen der Gedanke gekommen war, auch Romotschka sei ein Hundejunge. Dieser Junge war bei Hunden besser dran als bei Menschen . In gewisser Hinsicht hatte sie recht. Zunächst einmal keine Drogen. Kein Klebstoff oder Benzin. Wahrscheinlich keine Vergewaltigungen. Achtjährige, die auf der Straße lebten, fielen diesen drei Dingen fast immer zum Opfer. Und selbst wenn die Hunde einmal Romotschkas Haustiere gewesen waren, hatten sie die Aufgaben eines Rudels übernommen. Man konnte sie mit Fug und Recht als wild lebend bezeichnen, und wahrscheinlich waren sie ihm treu ergeben gewesen und hatten ihn beschützt. Alles, was er über wild lebende Hunde gelesen hatte, zeigte, wie organisiert und diszipliniert ihre Sozialstruktur sein konnte. Nach welch strengen Regeln und Gesetzen sie lebten. Dass das ganze Rudel eine Familie bildete, die zusammenarbeitete, um alle Mitglieder mit Nahrung zu versorgen. Dass die meisten Rüden und Hündinnen sich nicht fortpflanzten. Dass sie sich keinen anderen Hunden näherten, nicht einmal einer läufigen Hündin. Sie waren so starr auf ihre Familie fixiert, dass bei ihnen hoffnungslose Inzucht herrschen würde, wenn sie eine Weile ungestört leben könnten. Genetisch gesehen waren sie auf Katastrophen angewiesen, die das Rudel sprengten, damit einzelne Überlebende mit anderen Hunden neue Rudel gründen konnten.
    Nun, eine Katastrophe war eingetreten, das stand außer Frage.
    Es war wirklich ein sehr zielstrebiges, diszipliniertes Leben. Alles in allem konnte ein obdachloser Junge viel schlimmer dran sein. Romotschka hatte Narben und Parasiten, aber keine schweren Krankheiten. Und körperlich war er beängstigend stark. Sein Rudel war geschmeidig, gesund, schnell, und wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, sehr gefährlich gewesen. Dimitri musste lächeln, als ihm eine der Schlagzeilen wieder einfiel: MUTIERTE HUNDE TERRORISIEREN MOSKAUER BEVÖLKERUNG . Jenem Artikel zufolge waren die Hunde so schlau, dass sie sogar einfache Zeichensprache benutzen und mit der Metro in jede Gegend von Moskau fahren konnten, in der sie auf Nahrungssuche gehen wollten. Auch Menschen schienen auf ihrer Speisekarte zu stehen: Immer wieder einmal fand man angefressene Leichen.
    Hunde fuhren mit der Metro. Das hatte er selbst gesehen.
    Dimitri und Natalja bogen in eine Gasse, die aussah wie ein Feldweg voller Schlaglöcher. Eine Frau kam auf sie zu. Sie war in einen unförmigen Militärmantel gekleidet, der an der Taille von einer Schnur zusammengehalten wurde. Als Kopfbedeckung trug sie ein Spitzentuch, das vielleicht einmal weiß gewesen war und aus dem zerzauste Strähnen langen strohblonden Haars über ihre Schultern fielen. In einiger Entfernung blieb sie stehen und musterte die beiden. Dimitri sah ihr breites, schwachsinniges Lächeln, doch der Rest ihres Gesichts war kaum zu erkennen. Als Zeichen der Begrüßung oder vielleicht um sie aufzuhalten, streckte sie die Hand aus, während sie mit der anderen den Mantel zurückschlug und unter ihrem Kleid stöberte.
    Sie zog ein Bündel Lumpen hervor, das sie mit übertriebenen Bewegungen in den Armen wiegte, hob dann den Blick, nickte Dimitri und Natalja zu und näherte sich denbeiden mit breitem Lächeln. Sie wirkte wie eine Pantomimin, die mit einem Requisit spielte. Aus dem Bündel ertönte ein schwaches vogelartiges Piepsen, und Natalja sah Dimitri wütend an. Es war tatsächlich ein Baby. Die Frau ging leichtfüßig, um sich ihnen in den Weg zu stellen, während Dimitri von einem Fuß auf den anderen trat. Sie würde sie nicht vorbeilassen. Dann hörte sie auf, das Baby zu schaukeln, blickte auf und beugte sich in schrecklicher Vertraulichkeit vor, als würde sie ihnen ein Geheimnis mitteilen. Dimitri sah, dass sie noch nicht sehr alt war. Ihr Gesicht war jung, schmal und schrecklich entstellt von der Narbe eines tiefen Schnitts oder Axthiebs, die von einer Augenbraue
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