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Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin

Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin

Titel: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Autoren: Sascha Kathrin / Lobo Passig
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Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung, und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile.»
    (Max Goldt: «Prekariat und Prokrastination»)
    Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne. Ein großer Teil der Menschen draußen auf der Straße und ein noch größerer Teil der Menschen, denen man nicht auf der Straße begegnet, weil sie Besseres zu tun haben, schiebt alle möglichen anstehenden Aufgaben auf. Sie tragen den Müll nicht hinunter, sie tapezieren schon seit Monaten den Flur nicht, sie öffnen die Post selten, sie bringen dieses und jenes Projekt nicht zu Ende, sie rufen nicht zurück und hätten längst die Tabellenkalkulation für das dritte Quartal fertig machen müssen. Trotzdem sind sie nicht unbedingt faul, nicht alle dumm, nicht sämtlich bösartig, obwohl das die häufigsten Unterstellungen sind, mit denen sie zu kämpfen haben. Sie prokrastinieren, ein angenehmeres Wort für Aufschieben. «Cras» . (morgen) ist die Wurzel des lateinischen Wortes crastinus (dem morgigen Tag zugehörig). «Prokrastinieren» . (im Englischen erstmals 1588 erwähnt) bedeutet also wörtlich übersetzt: für morgen lassen. Und bis morgen kann es noch sehr lange hin sein. Wir haben diese Menschen weitgehend ohneHintergedanken LOBOs getauft. Das steht für
Lifestyle Of Bad Organisation
beziehungsweise dessen Anhänger.
    Prokrastination ist nicht auf spezielle Tätigkeiten oder Aufgaben begrenzt. Im Prinzip lässt sich alles Machbare aufschieben, sogar vollkommen Unumgängliches kann man bequem unterlassen. Die Konsequenzen sind breit gefächert. Oft passiert nichts. In schlimmeren Fällen steht der LOBO vor seiner Wohnungstür und kann sie nicht aufschließen, weil jemand, der seine Berechtigung aus der kalten Wut des missachteten Apparates herleitet, ein anderes Schloss eingebaut hat. Oder Kollegen und Freunde ziehen Konsequenzen und wenden sich ab. Oder Strom, Gas, Wasser, Telefon oder Internet sind plötzlich abgestellt.
    Diese Folgen sind dem Prokrastinierer nicht unbekannt und in der Regel für ihn ebenso unbequem wie für die meisten anderen Menschen. Er weiß auch, dass man den Schaden vermutlich abwenden könnte, wenn man den Stapel Briefe im Flur einfach doch öffnen würde. Dennoch hält ihn eine Macht davon ab. Oft wird angenommen, es handle sich dabei um Angst. Das mag manchmal stimmen, scheint aber nicht die Regel zu sein. Der wahre Grund, etwas scheinbar Notwendiges nicht zu tun, liegt in der Natur des Menschen. Tief im Innern weiß er, dass Notwendigkeiten stets eine Einengung darstellen, die das Wohlbefinden einschränkt. Das Streben nach Glück bringt ein Streben nach weitestgehender Reduktion von Zwängen mit sich, also werden selbst vorgebliche Notwendigkeiten in Frage gestellt und praktisch überprüft. Das Ergebnis ist eine unbewusst ablaufende Abwägung: Soll man jetzt einen Moment der sicheren Unannehmlichkeit verbringen – oder später einen weniger wahrscheinlichen, dafür eventuell deutlich problematischeren Moment?
    Mit der Frage, warum diese Abwägung so oft zugunsten des Aufschiebens ausgeht, befassen sich Forscher aus unterschiedlichenFachbereichen erst seit etwa dreißig Jahren. Woran es liegt, dass dieses Thema bis dahin trotz seiner Allgegenwart nicht erforscht wurde, und warum die Wissenschaft die Prokrastination dann doch noch entdeckte, ist eine interessante Frage, die dringend von anderen Menschen als uns untersucht werden sollte. Es könnte damit zu tun haben, dass moralische Urteile allgemein nicht der Weg zu schnellen Forschungsfortschritten sind: Die Medizin- und Psychologiegeschichte ist nicht arm an Beispielen für Erkenntnisbehinderung durch die Idee, die Betroffenen müssten sich einfach nur mal ein bisschen zusammenreißen – Depressionen, Phobien, sexuelle Abweichungen, Magersucht, sogar Schizophrenie und Autismus galten noch vor nicht allzu langer Zeit als solche Fälle. Vielleicht musste Prokrastination erst als Phänomen erkannt werden, hinter dem mehr und Interessanteres steckt als nur schlechte Manieren. In den letzten dreißig Jahren sind jedenfalls um die 700 wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Prokrastination entstanden. Insbesondere seit Ende der neunziger Jahre wurde endlich auch experimentell und mit Hilfe von Umfragen erforscht, wie sich der Aufschiebetrieb bei Studenten bemerkbar macht. Untersuchungen an halbwegs repräsentativen Bevölkerungsstichproben sind selten, weil mühsamer durchzuführen, aber auch hier
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