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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Autoren: Mitch Albom
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daß ich sterbe.«
    Ich wußte es.
    »Dann ist es ja gut.« Morrie schluckte die Pillen, setzte den Pappbecher ab, atmete tief ein und ließ seinen Atem dann ausströmen. »Soll ich dir sagen, wie es sich anfühlt?«
    »Wie sich was anfühlt? Zu sterben?«
    »Ja«, sagte er.
    Ich war mir dessen zwar nicht bewußt, aber genau in diesem Moment hatte unser letzter Kurs begonnen.
     
     
     
    Es ist mein erstes Jahr am College. Morrie ist älter als die meisten der Professoren, und ich bin jünger als die meisten der Studenten, da ich ein Jahr früher als üblich meinen High-School-Abschluß gemacht habe. Um mein jugendliches Alter zu kompensieren, trage ich alte graue Sweatshirts, boxe in einer lokalen Turnhalle und laufe mit einer unangezündeten Zigarette im Mund herum, obwohl ich nicht rauche. Ich fahre einen zerbeulten Mercury Cougar mit heruntergedrehten Fenstern und aufgedrehter Musik. Ich suche meine Identität in Härte und Zähigkeit – aber es ist Morries Sanftheit, die mich anzieht, und da er mich nicht als kleinen Jungen betrachtet, der versucht, mehr zu sein als er ist, entspanne ich mich.
    Ich besuche jenen ersten Kurs bei ihm bis zum Ende und schreibe mich für einen weiteren ein. Es ist leicht, bei ihm eine gute Beurteilung zu bekommen; Noten sind ihm nicht wichtig. In einem Jahr, so erzählt man sich, während des Vietnamkrieges, gab Morrie all seinen männlichen Studenten ein A, um ihnen zu helfen, eine Zurückstellung vom Wehrdienst zu erreichen.
    Ich beginne, Morrie »Coach« zu nennen, so, wie ich immer
meinen Trainer an der High-School angeredet habe. Morrie gefällt das.
    »Coach«, sagt er. »In Ordnung, ich werde dein Coach sein. Und du kannst mein Spieler sein. Du kannst alle die hübschen Rollen des Lebens spielen, für die ich jetzt zu alt bin.«
    Manchmal essen wir zusammen in der Cafeteria. Morrie benimmt sich zu meinem Vergnügen sogar noch unmöglicher als ich. Er spricht, anstatt zu kauen, lacht mit offenem Mund, formuliert einen leidenschaftlichen Gedanken mit einem Mund voller Eiersalat, wobei die kleinen gelben Stücke von seinen Zähnen spritzen.
    Er macht mich wahnsinnig. In der ganzen Zeit, die ich ihn kenne, habe ich zwei überwältigende Bedürfnisse: ihn zu umarmen und ihm eine Serviette zu geben.



Das Klassenzimmer
    Die Sonne schien durchs Eßzimmerfenster herein und ließ den Hartholzfußboden hell aufleuchten. Wir hatten dort fast zwei Stunden lang miteinander geredet. Das Telefon klingelte schon wieder, und Morrie bat seine Hilfskraft, Connie, es abzunehmen. Sie hatte die Namen der Anrufer in Morries kleinen schwarzen Terminkalender eingetragen. Freunde. Meditationslehrer. Eine Diskussionsgruppe. Jemand, der ihn für eine Zeitschrift fotografieren wollte. Es war klar, daß ich nicht der einzige war, der Interesse daran hatte, meinen alten Professor zu besuchen – sein Auftreten in der »Nightline «-Show hatte ihn zu so etwas wie einer Berühmtheit gemacht. Aber ich war beeindruckt, vielleicht auch ein bißchen neidisch auf all die Freunde, die Morrie zu haben schien. Ich dachte an die »Kumpels«, mit denen ich damals am College herumgezogen war. Wo waren sie geblieben?
    »Weißt du, Mitch, jetzt, da ich sterbe, bin ich für die Leute sehr viel interessanter geworden.«
    »Du warst immer interessant.«
    »Tatsächlich?« Morrie lächelte. »Du bist nett.«
    Nein, bin ich nicht, dachte ich.
    »Die Sache ist die«, sagte er. »Die Leute betrachten mich als eine Brücke. Ich bin nicht mehr so lebendig, wie ich früher immer war, aber ich bin noch nicht tot. Ich bin irgendwie … dazwischen.«
    Er hustete, gewann dann aber wieder sein Lächeln zurück. »Ich bin hier auf der letzten großen Reise – und die Leute möchten, daß ich ihnen sage, was man dafür einpacken soll.«
    Das Telefon klingelte wieder.
    »Morrie, kannst du reden?« fragte Connie.
    »Ich habe gerade Besuch von meinem alten Freund«, erklärte er. »Sie sollen später noch mal anrufen.«
    Ich kann Ihnen nicht sagen, warum er mich mit so viel Herzlichkeit aufnahm. Ich hatte nur noch sehr wenig von dem vielversprechenden Studenten, der sich vor sechzehn Jahren von ihm verabschiedet hatte. Hätte ich nicht zufällig die »Nightline «-Sendung gesehen, wäre Morrie möglicherweise gestorben, ohne mich jemals wiedergesehen zu haben. Ich hatte dafür keine gute Ausrede, außer derjenigen, die jeder in diesen Tagen zu haben schien. Ich hatte mich von dem Sirenengesang meines eigenen Lebens allzusehr betören
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