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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Autoren: Mitch Albom
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Trainingshosen und ein Handtuch um den Hals, und was auch immer gespielt
wurde – das war die Musik, zu der er tanzte. Er tanzte den Lindy zu der Musik von Jimi Hendrix. Er twistete und wirbelte herum, er wedelte mit den Armen wie ein ekstatischer Dirigent, bis ihm der Schweiß den Rücken runtertropfte. Niemand dort wußte, daß er ein berühmter Doktor der Soziologie war, mit jahrelanger Erfahrung als Collegeprofessor und mehreren Büchern, die in der Fachwelt viel Beachtung fanden. Man hielt ihn einfach für einen komischen alten Kauz.
    Einmal brachte er ein Tonband mit Tangomusik mit und überredete die Veranstalter, es über die Lautsprecher zu spielen. Da war er König der Tanzfläche, schoß vor und zurück wie einer jener heißen lateinamerikanischen Liebhaber. Als er zu Ende getanzt hatte, applaudierten alle. In dem Augenblick hätte er am liebsten die Zeit zum Stillstand gebracht.
    Aber dann hörte das Tanzen auf.
    Anfang Sechzig bekam er Asthma. Das Atmen machte ihm Mühe. Eines Tages ging er am Charles River entlang, es wehte ein kalter Wind, und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Er wurde eilig ins Krankenhaus gebracht, und dort gab man ihm eine Adrenalinspritze.
    Wenige Jahre später bekam er Schwierigkeiten beim Gehen. Auf einer Geburtstagsfeier für einen Freund stolperte er und fiel hin, ohne daß es eine Erklärung dafür gab. An einem anderen Abend fiel er die Stufen eines Theaters hinunter und versetzte eine kleine Menschengruppe in Schrecken.
    »Gebt ihm Sauerstoff!« rief jemand.
    Er war zu dieser Zeit Mitte Sechzig, deshalb flüsterte man: »Das Alter …« und half ihm auf die Füße. Aber Morrie, der zu seinem Körper immer besseren Kontakt hatte als wir anderen, wußte, daß etwas anderes nicht in Ordnung war. Dies war mehr als nur das Alter. Er war die ganze Zeit müde. Er hatte Schwierigkeiten zu schlafen. Er träumte, er würde sterben.
    Er begann, Ärzte aufzusuchen. Viele Ärzte. Sie testeten sein Blut. Sie testeten seinen Urin. Sie schoben ein Mikroskop in seinen After und sahen sich seine Gedärme von innen an.
    Schließlich, als man nichts finden konnte, ließ der Arzt eine Muskelbiopsie machen und entnahm Morries Wade ein kleines Stück Fleisch. In dem Laborbericht hieß es, daß es sich um ein neurologisches Problem handeln könnte, und Morrie ging für eine weitere Serie von Tests ins Krankenhaus. Bei einem jener Tests saß er auf einem Spezialstuhl, während man ihm kleine elektrische Stromschläge verpaßte – eine Art elektrischer Stuhl also – und seine neurologischen Reaktionen beobachtete.
    »Wir müssen das noch genauer überprüfen«, sagten die Ärzte, als sie sich seine Ergebnisse anschauten.
    »Warum?« fragte Morrie. »Was ist los?«
    »Wir sind nicht sicher. Ihre Zeiten sind langsam.«
    Seine Zeiten waren langsam? Was bedeutete das?
    Schließlich, an einem heißen, feuchten Tag im August 1994, gingen Morrie und seine Frau Charlotte ins Sprechzimmer
des Neurologen, und er bat sie, sich zu setzen, bevor er ihnen die Mitteilung machte: Morrie hatte amyotrophische Lateralsklerose (ALS), eine brutale, unbarmherzige Krankheit des Nervensystems, in den USA auch »Lou-Gehrig-Krankheit« genannt. 1
    Es gab, soweit bekannt, kein Heilmittel dagegen.
    »Wie hab’ ich das bekommen?« fragte Morrie.
    Niemand wußte es.
    »Ist es tödlich?«
    »Ja.«
    »Also werde ich sterben?«
    »Ja, das werden Sie«, sagte der Arzt. »Es tut mir sehr leid.«
    Er saß fast zwei Stunden lang mit Morrie und Charlotte zusammen und beantwortete geduldig ihre Fragen. Als sie gingen, gab der Arzt ihnen einige Informationen über ALS mit auf den Weg, kleine Broschüren, als wollten sie ein Bankkonto eröffnen. Draußen schien die Sonne, und die Leute gingen ihren Geschäften nach. Eine Frau steckte hektisch Münzen in die Parkuhr. Eine andere schleppte Tüten mit Lebensmitteln. Eine Million Gedanken gingen Charlotte durch den Kopf: Wieviel Zeit haben wir noch? Wie werden wir damit fertig werden? Wie werden wir die Rechnungen bezahlen?
    Auf einmal sah mein alter Professor die Normalität des Tages um sich herum mit anderen Augen. Er war verblüfft. Sollte die Welt nicht anhalten? Wissen sie nicht, was mir passiert ist?
    Aber die Welt hielt nicht an, sie nahm überhaupt nicht zur Kenntnis, was geschehen war, und als Morrie kraftlos die Tür des Wagens aufzog, fühlte er sich, als fiele er in ein Loch.
    Und nun? dachte er.
     
    Während Morrie nach Antworten suchte, ergriff die Krankheit Tag für
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