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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Autoren: Mitch Albom
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beigebracht hatte, der mich wegen der Mädchen geneckt und mit mir Fußball gespielt hatte, der Erwachsene, den ich mir als Kind zum Vorbild nahm und von dem ich sagte: »So wie er möchte ich auch sein, wenn ich groß bin«, starb mit vierundvierzig an Krebs. Er war ein kleiner, gutaussehender Mann mit einem dicken Schnauzbart, und ich war im letzten Jahr seines Lebens in seiner Nähe, da ich direkt unter ihm wohnte. Ich sah, wie sein starker Körper welkte, sich dann aufblähte, sah, wie er litt, Abend für Abend, sich am Eßtisch krümmte, die Hände auf den Magen gepreßt, die Augen geschlossen, den Mund von Schmerz verzerrt. »Ahhh, Gott«, stöhnte er dann. »Ahhh, Jesus!« Wir anderen – meine Tante, seine beiden jungen Söhne, ich – standen dabei, schweigend, räumten die Teller weg, wandten die Augen ab.
    So hilflos hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
    An einem Abend im Mai saßen mein Onkel und ich auf dem Balkon seiner Wohnung. Es war warm und ein wenig windig. Er schaute auf den Horizont und sagte durch zusammengebissene
Zähne, daß er nicht dasein würde, um seine Kinder ins nächste Schuljahr zu begleiten. Er fragte, ob ich auf sie aufpassen würde. Ich entgegnete ihm, er solle nicht so reden. Er starrte mich traurig an.
    Ein paar Wochen später starb er.
    Nach der Beerdigung veränderte sich mein Leben. Plötzlich erschien mir die Zeit unendlich kostbar, wie Wasser, das durch einen offenen Abfluß wegströmte, und ich konnte mich nicht rasch genug bewegen. Schluß mit dem Musizieren in halbleeren Nachtclubs. Schluß mit dem Komponieren von Songs in meinem Apartment, Songs, die niemals jemand hören würde. Ich ging noch einmal zur Schule, erwarb einen M.A. in Journalismus und nahm den ersten Job an, der mir angeboten wurde. Ich wurde Sportjournalist. Anstatt meinem eigenen Ruhm nachzujagen, schrieb ich über berühmte Sportler, die ihrem Ruhm nachjagten. Ich arbeitete für Zeitungen und schrieb als freier Mitarbeiter Beiträge für Zeitschriften. Ich arbeitete mit einer Geschwindigkeit, bei der ich Zeit und Grenzen vergaß. Ich wachte am Morgen auf, putzte mir die Zähne und setzte mich in derselben Kleidung, in der ich geschlafen hatte, an die Schreibmaschine. Mein Onkel hatte für eine große Firma gearbeitet und seine Arbeit gehaßt – jeden Tag dasselbe –, und ich war entschlossen, niemals so zu enden wie er.
    Ich reiste ständig zwischen New York und Florida hin und her und nahm schließlich einen Job in Detroit an, als Kolumnist für die Detroit Free Press. Der Hunger nach Sportnachrichten
in jener Stadt war unersättlich – es gab dort professionelle Football-, Basketball-, Baseball- und Hockeyteams –, und er entsprach meinem Ehrgeiz. Nach einigen Jahren verfaßte ich nicht nur Kolumnen, ich schrieb Sportbücher, machte Radiosendungen und erschien regelmäßig im Fernsehen, wo ich meine Meinung über reiche Footballspieler und verlogene College-Sportprogramme zum besten gab. Ich war Teil des Medienunwetters, das auf unser Land herabgeht. Ich war gefragt.
    Ich hörte auf, Mieter zu sein und begann zu kaufen. Ich kaufte ein Haus auf einem Hügel. Ich kaufte Autos. Ich investierte in Aktien und eröffnete ein Depot. Ich fuhr ständig im fünften Gang, und alles, was ich tat, tat ich im Hinblick auf einen Schlußtermin. Ich trieb Sport wie ein Teufel. Ich fuhr meinen Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Ich verdiente mehr Geld, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich begegnete einer dunkelhaarigen Frau namens Janine, die mich irgendwie liebte, trotz meines hektischen Zeitplans und meiner ständigen Abwesenheit. Wir heirateten, nachdem wir sieben Jahre lang eine feste Beziehung gehabt hatten. Eine Woche nach der Hochzeit war ich wieder an meinem Arbeitsplatz. Ich sagte ihr – und mir selbst –, daß wir eines Tages eine Familie gründen würden, etwas, was sie sich sehr wünschte. Aber jener Tag kam nie.
    Statt dessen bemühte ich mich, immer mehr zu leisten, da ich glaubte, durch Leistung das Leben kontrollieren zu können. Das bißchen Glück würde ich immer noch dazwischenpressen
können, bevor ich krank wurde und starb, so wie mein Onkel vor mir.
    Und was war mit Morrie? Tja, hin und wieder dachte ich noch an ihn, daran, was er mich darüber gelehrt hatte, »menschlich zu sein« und »mit anderen tiefe Beziehungen aufzubauen«, aber das war immer etwas am Rande, als käme es aus einem anderen Leben. Nach einigen Jahren warf ich die Post, die
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