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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung
Autoren: Aufbau
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kleineren Kinder, die nur noch an den alten Mann mit dem weißen Bart dachten, im Haus zu Bett gebracht oder ins Dorf gefahren. Die Verbliebenen ließen sich im Langen Zimmer mit seinen vielen gemütlichen Sofas und Sesseln nieder. Alte Freundschaften wurden aufgefrischt, alte Feindseligkeiten begraben oder neu angefacht.
    »Du musst Ethan sein«, sagte da eine Stimme. Als er sich umwandte, stand hinter seinem Sessel eine dunkelhaarige Frau von Mitte bis Ende zwanzig. Er wusste nicht, wer sie war, aber irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Er erhob sich.
    »Das ist wohl so«, sagte er. »Und du bist …?«
    Sie musste lachen.
    »Du hast keine Ahnung, was?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Du siehst jemandem ähnlich, aber ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«
    »Natürlich sind wir das. Denk mal nach.«
    Er prüfte ihre Züge. Kurzes schwarzes Haar, leuchtende Augen, blasse Wangen und ein Kirschmund. Während er noch in seinem Gedächtnis kramte, wurde ihm klar, dass ihn die Erinnerung gar nicht interessierte, sondern viel mehr die erstaunliche Klarheit dieser Züge, ihre Schönheitund der geheime Anspruch aus fernen oder nahen Tagen, den sie auf ihn zu erheben schien.
    »Ich bin Sarah«, sagte sie. »Deine Nichte, falls du es vergessen hast. Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, war ich zehn Jahre alt. Deine Eltern haben dich nach Canterbury mitgebracht. Damals fand ich dich furchtbar groß. Ich war wochenlang in dich verknallt. Du kamst gleich nach Mr. Boko, meinem Pony.«
    Er musterte sie eingehend, und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Das Pony war scheckig und kurzatmig gewesen.
    »Du hast dich sehr verändert«, sagte er.
    »Danke.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich habe nicht gesagt, zum Besseren.«
    »Ethan, mit zehn war ich ein dummes kleines Ding mit schlechten Zähnen. Der alte Boko war eine Schönheit gegen mich. Ich kann mich nur zum Besseren verändert haben.«
    Er überlegte, welchen Eindruck sie wohl auf ihn gemacht hatte, als sie zehn und er zwanzig Jahre alt war.
    »Stimmt«, sagte er. »Nur zum Besseren. Und wie!« Er maß sie mit einem bewundernden Blick. Solche eleganten und selbstbewussten Frauen waren in seiner Familie selten.
    »Setz dich doch wieder«, sagte sie. »Ich nehme mir einen Stuhl. Wir haben achtzehn Jahre nachzuholen.«
    Nach zwei Stunden hatten sie zehn davon abgehandelt und wollten sich gerade die letzten acht vornehmen, da erhob sich Ethans Vater.
    »Wir haben es jetzt halb zwölf. Wer zur Mitternachtsmesse möchte, müsste sich langsam auf den Weg machen. St. Benedikt ist nicht groß, und bald gibt es dort nur noch Stehplätze.«
    Als ob er, ein Priester im Tweedanzug, ein Zeichen gegeben hätte, erklang in diesem Moment das Geläut der Gemeindekirche durch die stille Nacht. Es war, als seien Engel auf die Erde herabgestiegen. Oder als Engel verkleidete Dämonen, dachte so mancher später.
    Man griff nach Hüten und Mänteln, schlüpfte in bereitstehende Galoschen, und kleine Gruppen bildeten sich. Die Straße vom Haus zur Kirche hatte man vom Schnee befreit, als es noch hell war. Die ältesten Gäste wurden gefahren, aber wer unter sechzig war, ging zu Fuß. Bald wand sich eine lange Schlange von Kirchgängern durch die verschneite Landschaft. Nur das sanfte Licht des Mondes, das den Schnee zum Glitzern brachte, fiel auf ihren Weg. Vor ihnen blinkten die Fenster des Kirchleins wie Leuchtfeuer einer von Gott erfüllten jungfräulichen Welt. Selbst die zahlreichen Nichtgläubigen überlief ein Schauer – nicht von der Kälte, sondern von der Schönheit dieses Bildes. Als sie näher kamen, drang Gesang an ihr Ohr.
    Sarah hakte sich bei Ethan unter und stand mit ihm während der ganzen Messe im Hintergrund der Kirche. Der Gemeindechor sang sich wacker durch mittelalterliche Choräle und moderne Wiegenlieder, die durch den geschmückten Raum schwebten, als sei nur Frieden in der Welt. Er sang gegen Finsternis und Kälte, gegen graues Elend und schwarzen Kummer an. Die nahe Geburt des neuen Gottes schien alles Böse zu vertreiben, eine Linie zwischen gestern und heute, zwischen Dunkelheit und kommendem Licht zu ziehen.
    Ethan schaute und lauschte, stimmte in die Choräle ein, wo dies erwartet wurde, erinnerte sich und versuchte zugleich zu vergessen. Sarah stand dicht bei ihm. Sie hatte von den Dämonen gehört, von den Nächten, die seineTage überschatteten. Obwohl sie nicht an Engel, höhere Mächte oder einen Gott in der Krippe glaubte, betete sie
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