Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zweite Fahrt zur Schatzinsel

Die zweite Fahrt zur Schatzinsel

Titel: Die zweite Fahrt zur Schatzinsel
Autoren: Robert Leeson
Vom Netzwerk:
darauf und rezitierte:
    „Krone und Zepter müssen
fallen.
    Sie werden zu Staub wie Sense
und Spaten.“
    Das war solange wahr, sagte er,
wie es eben wahr war. Aber selbst im Tod waren die Menschen nicht gleich.
Manche kamen in Kiefernholz unter die Erde, andere in edelstem Mahagoni. Doch
wenn Sorgfalt zählte, dann waren alle gleich. „Bestatte die Reichen feierlich,
denn dafür haben sie bezahlt. Bestatte die Armen würdig, denn das ist jedes
Menschen Recht“, sagte Meister Oakleigh. Bei einem Armenbegräbnis standen
manchmal außer den Totengräbern nur drei Menschen am Grab: Meister Oakleigh,
der arme Hilfspfarrer, den er bezahlt hatte, und ich. Dort standen wir in
Sonne, Regen, Sturm oder Schnee, bis der Sarg mit Erde bedeckt war. Als ich
sehr klein war, pflegte der alte Leichenbestatter mich dann auf seine Schultern
zu setzen und nach Hause zu tragen, sorgfältig darauf bedacht, mich abzusetzen,
wenn wir das Tor erreichten, denn er fürchtete, daß der junge Oakleigh uns
sehen könnte.
    Als ich älter wurde, gab er mir
manche Arbeit zu tun. Ich merkte mir die Namen der Trauernden für das
Nachrichtenblatt in Bridgewater, öffnete die Türen der Kutschen, richtete die
Kränze wieder her, wenn der Wind sie von den Gräbern wehte, und, wenn der Preis
stimmte, trug ich Schwarz und spielte Begräbnisteilnehmer. Und beim
anschließenden Leichenschmaus sang ich mit meiner Fistelstimme ein trauriges
Lied. Hierfür war ich sehr begehrt; daß ich ein Waisenkind war, machte es noch
rührender, und ich bekam manchen Kuß von den Damen, die in ernstes Schwarz
gekleidet waren. Manche küßten auch ernst, mit gekräuselten Lippen, andere mit
offenem Mund, als wäre ich eine Fleischpastete. Aber alle Küsse waren mir
gleichermaßen willkommen. Ebenso willkommen war mir das Essen, einfach oder
köstlich, bei schlichten Begräbnissen oder vornehmen. Ich bekam ebenso
Geschmack am Wein und vorzüglichem Fleisch wie an starkem Bier und grober Kost.
    So wuchs ich heran, und als ich
dreizehn Jahre alt war, konnte ich weder lesen noch schreiben und besaß nur
einen Anzug (mein schwarzer Traueranzug mit dem weißen Rüschenhemd wurde nach
jedem Begräbnis sorgfältig verwahrt). Doch ich hatte die Zunge eines
Feinschmeckers für Wein und Essen, ein Verlangen nach Küssen und Ansichten über
Leben und Tod, die zu jemandem gepaßt hätten, der zwei- bis dreimal so alt war
wie ich.
    So ein Wesen muß unliebsame
Gefühle erregen. Von Anfang an hatte ich einen Feind, den jungen Oakleigh,
Tillys Vater. Nicht, daß ich mir seinetwegen übermäßige Gedanken gemacht hätte,
denn Meister Oakleigh sorgte gut für mich. Er hatte vor, mich mit Vierzehn in
die Lehre zu nehmen.
    Er schien entschlossen, mich
alles zu lehren, was er wußte, und das gefiel dem jungen Oakleigh noch weniger.
Doch dann verließ mich mein Glück.
    Der alte Leichenbestatter
starb. Er wurde feierlich begraben, denn er war alles andere als arm. Die
Leute, die von nah und fern kamen, waren ehrlich betrübt, daß er sie verlassen
hatte — vor allem die schwarzgekleideten Meister und Gesellen der
Leichenbestatter-Innung, die seinen Sarg mit seinen Werkzeugen auf dem Deckel
zur Kirche trugen.
    Niemand war betrübter als ich.
Meine Beobachtung dieses Spieles, das wir Leben nennen, lehrte mich, daß meine
nächsten Karten schlecht sein würden.

- -------------------------

2 .
Ein verhängnisvoller Schlag
     
     
    Meister Oakleigh hatte seinen
Sohn gut gekannt und deshalb in seinem Testament festgelegt, daß ich in die
Lehre genommen werden sollte. Der junge Oakleigh mußte sich daran halten, oder
er hätte alles Ansehen in der eigenen Werkstatt oder jeder anderen Werkstatt in
der Grafschaft verloren. Er schob das Unterschreiben des Vertrages solange
hinaus, wie er konnte, und das wenige, was er mich lehrte, lehrte er mich
widerwillig.
    In der kurzen Zeit, die ich mit
ihm zusammen war, lernte ich in Wirklichkeit nur zwei Dinge: zu lügen, um nicht
in Schwierigkeiten zu geraten, und mich zu verdrücken, wenn sie auftraten. Er
unterwies mich mit der flachen Hand, den Knöcheln, einem Zollstock oder was ihm
sonst gerade zwischen die Finger kam. Ich fand bald heraus, daß es wenig
nützte, an seinen Gerechtigkeitssinn zu appellieren, denn er hatte keinen. Statt dessen lernte ich seine wechselnden Gesichtszüge
einzuschätzen wie die Wolken am Himmel. Ein gewisses Verdunkeln seiner Züge,
ein Zusammenziehen der Muskeln zwischen den Augen — und meine Glieder spannten sich
wie eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher