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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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mir hoch wie ein Fieber.
    Das erste Mal habe ich getötet, als ich zwölf war.
    Es war meine Abschlussprüfung, der letzte Test, den ich bestehen musste, bevor ich mich Jägerin nennen durfte. Ich hatte hart dafür trainiert, aber ich musste noch unter Beweis stellen, dass ich auch entschlossen genug war. Ich sah sein Gesicht immer noch vor mir, selbst dreieinhalb Jahre später. Er war verletzt gewesen und schwach. Die Ältesten hatten behauptet, er sei ein Spion aus Nassau. Sie hätten ihn erwischt, als er in unserer Enklave herumschnüffelte. Ich erinnerte mich, wie er um sein Leben bettelte, mich mit bebender Stimme um Gnade anflehte, aber darauf war ich vorbereitet gewesen. Es war das erste Mal, dass ich ein Messer in der Hand hielt, denn Bälger durften keine Waffen besitzen. Im Rückblick denke ich, ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte das abgekartete Spiel wittern müssen und die Unaufrichtigkeit der Ältesten, aber ich hatte nicht genau genug hingesehen.
    » Sie haben mich hierherverschleppt«, wimmerte er. » Sie haben mich verschleppt .«
    Damals dachte ich, er meinte, dass sie ihn in den Tunneln aufgegriffen hätten. Den jämmerlichen Versuch, sein Leben zu retten, fand ich abstoßend. Ein Spion, der sich erwischen ließ, konnte wenigstens in Würde sterben. Mein Magen rebellierte, aber ich schnitt ihm die Kehle durch, brachte sein Gejammer für immer zum Verstummen. Ich wusste noch nicht genug, um ihm einen weniger blutigen Tod zu bereiten und stattdessen ein lebenswichtiges Organ zu durchbohren. Die Ältesten waren zufrieden mit mir. Seide nahm mich mit in den Kochbereich, und Kupfer machte mir ein besonders leckeres Essen. Dabei hatte er wahrscheinlich gar nicht gelogen, und sie hatten ihn tatsächlich entführt. Die Ältesten taten vieles, von dem wir nichts wussten.
    Jetzt war ich seit Monaten Oben, aber die Schatten der Vergangenheit verfolgten mich noch immer.
    Mrs. James klopfte verärgert aufs Pult. » Zwei, wärst du dann so freundlich?«
    Ich schreckte hoch, die Wangen rot vor Scham. Mrs. James wusste natürlich, dass ich nicht aufgepasst hatte, und jetzt führte sie mich genüsslich vor. In dieser Hinsicht war sie wie Seide: Sie glaubte, öffentliche Schmach wäre der beste Ansporn. Meiner Meinung nach war das Einzige, was man dabei lernte, sich selbst zu verachten.
    Ich blickte ihr fest in die Augen, denn ich war kein Balg mehr, der sich so leicht einschüchtern ließ. Trotzdem hatte sie ihr Ziel erreicht, und ich schämte mich.
    » Ich habe Sie nicht gehört. Was soll ich noch mal tun?«
    » Lies Seite einundvierzig vor, bitte.«
    Aha . Geschichte war also schon vorbei. Jetzt war Lesen dran. Die anderen freuten sich schon darauf, wie ich mich gleich mit den Worten abmühen würde. Ich las langsam, die Aussprache machte mir Mühe, und ständig korrigierte mich Mrs. James. Ich mochte Geschichten, aber sie vorzutragen war mir ein Graus. Wenn ich eine still für mich selbst las, war das anregend und unterhaltend, aber das Vorlesen sollte man besser denen überlassen, die gut darin waren.
    Wie Bleich. Er beobachtete mich, und seine dunklen Augen verrieten mir nicht das Geringste darüber, was in ihm vorging.
    Irgendwann hatte ich es geschafft und lehnte mich zurück, hasste im Geheimen Mrs. James, weil sie mich in diese unangenehme Lage gebracht hatte. In sechs Monaten würde all das ein Ende haben. In sechs Monaten war ich erwachsen. Das tat besonders weh, denn nach den Regeln, die Unten galten, war ich schon längst volljährig. Es war einfach nicht fair. Unten war ich frei gewesen, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Aber als wir die Sicherheit von Erlösung erreicht hatten, von der wir die ganze Zeit geträumt hatten, war mir diese Freiheit wieder genommen worden.
    Als ich mich einmal deswegen bei Draufgänger beschwerte, schüttelte er nur den Kopf und lachte. » Das ist das Leben, Mädchen«, sagte er.
    Die Jungs waren alt genug, nicht zur Schule zu gehen, aber sie kamen trotzdem. Vielleicht hörten sie lieber Mrs. James zu, als den ganzen Tag zu arbeiten. So mussten sie wenigstens erst am Nachmittag schuften. Bei Pirscher hatte ich den Verdacht, dass es außerdem eine Frage des Stolzes war. Er ertrug es nicht, dass Bleich so viel besser lesen konnte als er, und tat alles, um möglichst schnell aufzuholen. Nicht dass die Lehrerin seine Bemühungen belohnt hätte. Sie mochte keinen von uns besonders– jeden aus verschiedenen Gründen.
    Die anderen standen gerade auf, um draußen
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