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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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Seide mir erzählt, dass die Enklave nicht mehr existierte, und ich fragte mich, ob es vielleicht sogar stimmte, sah aber keine Möglichkeit, es zu überprüfen. Als ich College verließ, verlor ich praktisch jeden, der mir etwas bedeutete, und jetzt hatte ich das Gefühl, auch Bleich verloren zu haben. Vorhin, als Draufgänger den Freak erschossen hatte, hatte ich mich gefragt, ob der Schrei seines Gefährten vielleicht ein Ausdruck von Gefühlen gewesen war. Ob diese Monster genauso fühlten wie wir und ob sie ihre Gefallenen vermissten. Es war ein unangenehmer Gedanke, und er plagte mich immer noch, als ich endlich in unruhigen Schlaf fiel.
    Und dann begann der Albtraum.
    Ich konnte ihn regelrecht auf der Haut spüren, diesen Gestank, der uns entgegenschlug, als wir um die letzte Biegung kamen. An die Dunkelheit und Kälte hatte ich mich längst gewöhnt, aber der Gestank war neu. Es roch wie damals, als die Freaks uns in dem alten Waggon umzingelt hatten, nur hundertmal schlimmer. Bleich legte mir eine Hand auf den Arm und bedeutete mir, mich ganz dicht an der Wand zu halten und so leise wie möglich weiterzuschleichen. Ich gehorchte nur zu gern.
    Als Erstes sahen wir die zerstörte Barrikade. Sie war unbemannt. In der Siedlung wimmelte es nur so von Freaks. Sie waren dick im Vergleich zu denen, die wir unterwegs gesehen hatten. Entsetzen packte mich. Ich konnte den Anblick der Leichen kaum ertragen, er erstickte jeden klaren Gedanken.
    Es gab niemanden mehr, den wir retten konnten, und unsere Ältesten hatten den letzten Überlebenden aus Nassau getötet. Damit lag die nächste Siedlung, mit der wir Handel treiben konnten, vier Tagesmärsche in entgegengesetzter Richtung. Bleich deutete mit dem Kinn. Er hatte recht. Es war Zeit zu gehen. Hier erwartete uns nichts anderes als der Tod.
    Ich war am Ende meiner Kräfte, aber die Angst hielt mich auf den Beinen. Sobald wir uns weit genug weggeschlichen hatten, rannte ich los. Meine Füße hämmerten über den Boden, und ich lief, bis ich den Schrecken weit genug hinter mir gelassen hatte. Nassau war nicht vorbereitet gewesen. Sie hatten nicht geglaubt, dass die Freaks eine ernsthafte Bedrohung darstellen könnten. Ich versuchte, nicht an die Angst zu denken, die die Bälger verspürt haben mussten, und nicht an die Schreie ihrer Zeuger. Nassaus Jäger hatten versagt.
    Das konnte uns nicht passieren. Es durfte uns nicht passieren. Wir mussten es zurück nach Hause schaffen und die Ältesten warnen.
    Meine Beine bewegten sich, aber ich kam nicht vom Fleck. Ich rannte, der Boden gab unter meinen Füßen nach und verschlang mich. Ich schrie, aber kein Laut drang aus meiner Kehle. Dann wurde alles schwarz, ich fiel, und die Welt um mich herum drehte sich.
    Dann war ich in der Enklave. Verächtliche Blicke schlugen mir entgegen. Sie bespuckten mich, während ich durch die Gassen auf die Barrikade zuging. Ich hob das Kinn und ignorierte die hasserfüllten Gesichter. Bleich wartete schon auf mich. Stumm standen wir da, während sie unsere Sachen durchsuchten. Eine Jägerin warf mir meinen Beutel an den Kopf. Ich fing ihn auf. Ich wagte kaum zu atmen, als sie sich vor mir aufbaute.
    » Du widerst mich an«, knurrte sie.
    Ich sagte nichts. Wie schon so viele Male zuvor kletterten Bleich und ich auf die andere Seite der Barrikade, aber diesmal würden wir nicht zurückkehren. Wir waren verstoßen. Ohne nachzudenken, rannte ich in irgendeine Richtung los, rannte, bis der Schmerz in meiner Seite so groß war wie der in meinem Herzen.
    Irgendwann packte Bleich mich von hinten und schüttelte mich. » Wir werden’s nicht schaffen, wenn du dich nicht zusammenreißt.«
    Wieder wurde ich an einen anderen Ort katapultiert. Schmerz und Scham verschmolzen zu Angst, aber mir blieb nichts anderes übrig, als meine Heimat ein für alle Mal zu verlassen und mich dem Unbekannten hinzugeben, das mich verschlingen würde.
    Ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen, lediglich Bleichs verschwommene Silhouette. » Ich gehe als Erster.«
    Ich wagte nicht zu widersprechen und folgte ihm nach oben. Ich konnte mich kaum an den Metallsprossen der Leiter festhalten, so glitschig waren meine Hände vom Schweiß. Mehrmals wäre ich um ein Haar abgerutscht, kämpfte mich jedoch verbissen weiter.
    » Siehst du schon was?«
    » Bin fast da.« Ich hörte, wie er in der Dunkelheit nach etwas tastete. Metall schabte über Stein, und Bleich kletterte durch ein kleines kreisrundes Loch. Fahles Licht drang
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