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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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vorstellen, dass die Mauern und Gewehre uns ewig schützen würden. Das Leben Unten hatte mich gelehrt, mich auf nichts anderes zu verlassen als meine eigenen Fähigkeiten. Pirscher war Oben bei den Banden aufgewachsen und sah die Dinge ähnlich wie ich. Er war bei Mr. Smith untergekommen und lernte dort das Schmiedehandwerk. Er meinte, es sei ganz nützlich zu wissen, wie man Waffen und Munition herstellt.
    Tegan war immer noch bei Doc Tuttle und dessen Frau. Einen ganzen Monat hatte sie mit der Infektion gekämpft. Anfangs besuchte ich sie, sooft ich konnte, aber schon nach wenigen Tagen steckten sie mich in die Schule. Vor drei Wochen stieß dort auch Tegan zu uns. Am Nachmittag ging sie Doc zur Hand, wenn er die Patienten behandelte, reinigte die Instrumente und erledigte, was gerade so an Aufgaben anfiel. Bleich hatten sie bei Mr. Jensen untergebracht. Er kümmerte sich um die Ställe, in denen sie die großen Tiere hielten, von denen eines Draufgängers Planwagen gezogen hatte.
    Von uns dreien war ich als Einzige bei Edmund und Oma Oaks geblieben. Obwohl ich mich nicht besonders gut anstellte, gab sie mir ständig Sachen zum Nähen, und ich hasste es, mich mit Schafferarbeit herumschlagen zu müssen. Es war eine Verschwendung meiner Fähigkeiten. Außerdem sah ich meine alten Freunde kaum noch. Manchmal vermisste ich das Haus am Fluss, wo uns keiner sagte, was wir zu tun hatten.
    All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, während wir uns von der Mauer entfernten. In schweigender Übereinkunft hatten wir beschlossen, uns fürs Erste nicht wieder schlafen zu legen. Stattdessen gingen wir zu unserem Versteck. Wir durften die Siedlung nicht verlassen, hatten aber im nördlichen Teil von Erlösung ein leer stehendes Haus entdeckt. Das Dach war bereits fertig, doch die Innenräume noch nicht. Beim ersten Stockwerk fehlten sogar noch die Wände. Es bestand praktisch nur aus den Trägern, die das Dach hielten.
    Ein junges Paar wollte nach der Hochzeit dort einziehen. Aber das Mädchen hatte ein Fieber bekommen und war gestorben, und der Junge konnte den Verlust nicht ertragen. Oma Oaks erzählte mir, eines Nachts sei er unbewaffnet einfach hinaus in die Wildnis gegangen. » Es war, als wollte er, dass die Stummies ihn töten«, sagte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. » Die Liebe kann seltsame Dinge mit einem anstellen.«
    Liebe musste etwas Schreckliches sein, wenn sie einen so schwach machen konnte, dass man ohne sie nicht mehr weiterleben wollte. Aber das Unglück der beiden hatte uns dieses Haus verschafft, einen idealen Ort für heimliche Gespräche und Sparringskämpfe.
    » Wir gehören hier nicht her«, sagte Pirscher, nachdem wir die rettenden Schatten zwischen den Mauern erreicht hatten.
    Ich war der gleichen Meinung. Die Rollen, in die sie uns pressten, passten nicht zu uns. Sie begriffen einfach nicht, dass wir keine kleinen Bälger mehr waren, auf die man ständig aufpassen musste. Wir hatten Dinge gesehen und Schlachten überlebt, die die Bewohner von Erlösung sich nicht einmal vorstellen konnten. Ich redete nicht gerne schlecht über Menschen, die immerhin freundlich genug waren, uns bei sich aufzunehmen, aber in mancher Hinsicht waren sie doch etwas engstirnig.
    » Ich weiß«, erwiderte ich leise.
    Die Leute sagten, in dem Haus würde es spuken. Das war der Grund, weshalb es nicht fertiggestellt worden war. Ich kannte nicht einmal das Wort, bis Draufgänger es mir erklärte. Die Vorstellung, ein Geist könnte außerhalb des Körpers eines Toten weiterleben, war mir fremd. Nur manchmal fragte ich mich, ob Seides Geist vielleicht in meinen Kopf weiterlebte. Deshalb wollte ich eines Tages von Draufgänger wissen, ob es in Menschen genauso spuken könne wie in Häusern.
    » Ich bin nicht mal sicher, ob das in Häusern möglich ist, Zwei«, hatte er geantwortet. » Wenn du was über Esoterik wissen willst, fragst du den Falschen.«
    Nachdem ich das Wort Esoterik auch nicht kannte, ließ ich die Sache schließlich auf sich beruhen. Oben gab es eine Menge Wörter und andere Dinge, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich kam mir klein und dumm vor wegen meiner Unwissenheit und versuchte, meine Lücken so schnell wie möglich zu füllen. In der Zwischenzeit verbarg ich meine Unsicherheit, so gut es ging.
    » Wir könnten von hier weggehen«, sagte Pirscher.
    Ich betrachtete meine Finger, aber es war zu dunkel, um all die kleinen Piekser zu sehen, die die Nähnadeln auf ihnen hinterlassen hatten.
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