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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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nicht mehr so leicht auf die Lügen hereinfallen, die andere mir auftischten.
    Es dauerte eine Weile, bis ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte, und was ich dann sah, erschütterte mich bis ins Mark. Die Freaks hatten uns umzingelt: Erlösung war komplett eingeschlossen wie von einer schwarzen Gewitterwolke. Sie hielten sich gerade außer Schussweite, als überlegten sie, was sie als Nächstes tun sollten. Sie waren immer noch nicht besonders schlau, aber irgendwann würden sie begreifen, dass wir sie niemals abwehren konnten, wenn sie alle auf einmal angriffen. Irgendwann würden sie die Mauern erreichen.
    Und ich sah die Fackeln, die sie aus ihrem Lager mitgebracht hatten. Unsere gesamte Stadt bestand aus Holz. Zitternd schloss ich die Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihre Möglichkeiten erkannten, und dann würde es keine Rolle mehr spielen, dass Bleich sich von mir zurückgezogen hatte. Uns blieben nur noch wenige Tage, egal wie verzweifelt Bigwater nach einem Ausweg suchte. Er mochte die besten Absichten haben, aber seine Möglichkeiten waren begrenzt.
    » Es sieht schlimm aus«, sagte der Wachmann. » Und ich fürchte, ich habe deinen Namen vergessen.«
    Als er das sagte, war ich erleichtert. Wenn jemand, mit dem ich den ganzen Sommer über gedient hatte, sich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern konnte, war ich wohl doch nicht so verhasst, wie die verächtlichen Blicke der Frauen mich glauben ließen.
    » Zwei.«
    » Ich bin Harry Carter.«
    Ich erinnerte mich, den Namen an jenem schicksalhaften Tag gehört zu haben, als die Mitglieder der Sommerpatrouille ausgelost worden waren, und fragte mich, wie er sich dabei fühlte, zu den wenigen Überlebenden zu gehören. Ob dieses » Glück« genauso schwer auf seinen Schultern lastete wie auf meinen, ob er wie ich das Gefühl hatte, es nicht wert zu sein? Aber er war wesentlich älter als ich, beinahe so alt wie Draufgänger, und ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Zumindest nicht, solange ich ihn kaum kannte.
    » Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben, Harry Carter«, sagte ich ernst.
    » Du kommst aus Gotham…«, erwiderte er. Es war keine Frage, aber ich wusste, dass unweigerlich eine folgen würde– irgendetwas Allgemeines oder unsäglich Dummes. Doch Harry überraschte mich und versank stattdessen in nachdenkliches Schweigen. » Es tut mir leid, dass deine Leute damals zurückgelassen wurden«, sagte er schließlich.
    Die große Evakuierung lag lange zurück, und ich war überrascht, dass überhaupt noch jemand daran dachte. Ich nahm es als Zeichen für sein Einfühlungsvermögen. » Ich schätze, sie haben mitgenommen, wen sie konnten«, erwiderte ich.
    » Mag sein«, murmelte er und hob sein Gewehr.
    Die nächste Welle griff an, und alle feuerten verzweifelt. Kaum war ein Freak gefallen, trat ein anderer an seine Stelle; sie wichen aus, rannten im Zickzack und kamen immer näher. Ich griff nach den Messern unter meinem Kleid, aber aus dieser Entfernung konnte ich mit ihnen nichts ausrichten.
    Einige der Monster schafften es bis an die Umpfählung, aber glücklicherweise hatten sie keine Fackeln dabei. Bald, dachte ich. Bald werden sie dahinterkommen.
    Harry beugte sich über die Balustrade und schoss senkrecht nach unten. Die Schädeldecke eines Freaks platzte auf, und sein Gehirn spritzte gegen das Holz. Es roch nach Tod. Der Gestank war so entsetzlich, dass ich mich beinahe übergeben hätte.
    » Du solltest jetzt gehen«, sagte Harry.
    Ich konnte es ohnehin nicht ertragen, einfach danebenzustehen und nichts zu unternehmen, also gehorchte ich. Ich hatte immer noch Miles’ Gewehr, wollte mir aber nicht noch mehr Ärger mit Mrs. Bigwater einhandeln. Andererseits wären die Wachen unter den gegebenen Umständen vielleicht froh um jede Hilfe, egal von wem. Ich würde Oma Oaks um Rat fragen.
    Glücklich, wieder eine Aufgabe zu haben, rannte ich nach Hause. Ich konnte meine Jägerinnenkluft anlegen und mir einmal mehr einen Platz in der Gemeinschaft von Erlösung verdienen. Bestimmt würde ich immer besser mit dem Gewehr werden, je mehr Übung ich bekam, und im Moment bot sich von der Mauer aus jede Menge Gelegenheit dazu. Vor allem die Fackelträger wollte ich von dort oben erledigen.
    Mit fliegendem Kleid stürmte ich durch die Vordertür, und Oma Oaks ließ erschrocken den Rock fallen, dessen Saum sie gerade flickte. » Bist du verletzt?«
    » Nein, Ma’am. Ich brauche nur mein Gewehr«, antwortete ich.
    Sie
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