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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht
Autoren: Ann Aguirre
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starrte mich an, als hätte ich gerade gesagt, ich wolle mich mit Edmund fortpflanzen. » Wozu?«
    » Ich werde auf der Mauer gebraucht. Glaubst du, jemand könnte was dagegen haben?« Eigentlich war das eine vollkommen unsinnige Frage. Ich war eine Frau, ich konnte schießen, und ich wollte helfen. Was sprach also dagegen? Andererseits wollte ich die Bürger von Erlösung nicht noch mehr gegen mich und meine Pflegeeltern aufbringen.
    Oma Oaks überlegte lange, bevor sie antwortete. » Wenn du darauf achtest, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, dürfte es keine Probleme geben«, sagte sie schließlich.
    Ich hatte auch nicht vorgehabt, durch die ganze Stadt zu laufen und überall zu verkünden: Seht her, ich bin ein Mädchen, das am liebsten Hosen trägt und mit dem Gewehr wild um sich schießt. Aber ich wusste, was sie meinte.
    » Ich werde vorsichtig sein«, sagte ich und rannte die Treppe hinauf.
    Als Erstes verstaute ich die Ledermappe mit Draufgängers Vermächtnis. Dann zog ich mich um und suchte das Gewehr. Jemand hatte es entladen und unter meinem Bett verstaut. Die Patronen fand ich in einer Schublade. Ich streifte meine Jägerinnenkluft über, und als ich in Edmunds Stiefel schlüpfte, dachte ich daran, wie stolz er gewesen war, als er sie mir überreichte. Er hatte sie eigens für mich gemacht, sie passten perfekt, und das Leder war während des Sommers wunderbar weich geworden. Ich zog die Schleife aus meinem Haar und ersetzte sie durch ein einfaches Band.
    Ich war wieder eine Jägerin.
    Oma Oaks küsste mich zum Abschied, und ich schlich mich vorsichtig durch die Nebenstraßen, damit mich möglichst wenige sahen. Tatsächlich schien niemand etwas zu bemerken. Anscheinend hielten die Leute mich für einen Jungen, aber das war mir nur recht.
    Harry Carter war nach wie vor auf seinem Posten, als ich zurückkam. Diesmal kletterte ich sofort nach oben, ohne auf eine Erlaubnis zu warten, und er fragte mich erst gar nicht, was ich hier wollte. Das Gewehr über meiner Schulter war Antwort genug.
    Er sah entsetzlich müde aus. Sie waren nicht genug, um die gesamte Mauer ständig zu bewachen, und die wenigen Soldaten, die wir hatten, waren in viel zu langen Schichten im Einsatz.
    » Im Moment haben sie sich zurückgezogen«, erklärte er, während ich mein Gewehr überprüfte. » Aber sie werden bald wiederkommen. Es dürften genug Ziele für dich übrig bleiben.«
    Wir mussten nicht lange warten. Als es so weit war, hob ich das Gewehr und zielte auf den Rumpf, wie Draufgänger es mir beigebracht hatte. Der Freak wurde herumgerissen und stürzte. Meiner . Ein weiterer Abschuss auf meiner Liste. Niemand läutete mir die Glocke, denn es waren viel zu viele Tote, und der Lärm wäre unerträglich gewesen. Die Schüsse und das Gebrüll der Freaks waren schon schlimm genug. Kurz hintereinander streckte ich fünf weitere nieder, dann musste ich aus Harrys Munitionspäckchen nachladen. Miles’ Gewehr war gut gepflegt, der dunkle Lauf und der Kolben aus Walnussholz glänzten in der Sonne, aber ich hätte trotzdem lieber Draufgängers Waffe gehabt– als Andenken, das ich in Ehren halten konnte.
    Wir hatten die Freaks schon eine ganze Weile erfolgreich zurückgeschlagen, als es passierte. Wie so oft bei großen Katastrophen fing es ganz klein an, und zuerst schenkte ich den Stimmen hinter uns keine Beachtung. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Freaks abzuschießen. Auch Harry war vollkommen auf seine Aufgabe konzentriert und ließ sich nicht ablenken.
    Aber die Stimmen wurden immer lauter. Ich blendete sie aus und feuerte weiter, bis der Angriff vorüber war. Überall lagen blutüberströmte Kadaver, und der Gestank war mit jeder Leiche schlimmer geworden. In der Ferne hörte ich das Klagegeschrei der Freaks und andere grässliche Laute, die wohl ihre Sprache waren.
    Schließlich wurde es mir zu dumm. Ich wirbelte herum und wollte den Pöbel zum Verstummen bringen, aber was ich sah, verschlug mir die Sprache. Caroline Bigwater stand mit einer Gruppe Männer und Frauen am Fuß der Mauer, und sie alle starrten mit dem gleichen anklagenden Ausdruck im Gesicht zu mir empor. Mrs. Bigwater hielt ein Buch in den Händen, das in etwa so alt sein musste wie Tagjunge und Nachtmädchen .
    » Da seht ihr es!«, rief sie mit schriller Stimme. In ihren Worten lag eine Mischung aus Hass, Angst und Verachtung. » Schaut sie euch an, zurechtgemacht wie ein Mann. Wir wissen, was passiert, wenn sich der Mensch gegen den Willen des
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