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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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ließ ich mir unverfänglich eine Unterkunft empfehlen. Mein Interesse an wandelnden Leichen sollte vorläufig noch verborgen bleiben.

Æsta, die schwimmende Stadt auf dem Eisberg

    Technische Zeichnung
    Z um ersten Mal wagte ich mich durch die gewöhnlich geschlossene Tür in den Steuerstand, wo Kapitän und Steuermann das Luftschiff auf das grau tosende Meer navigierten – unweit der steilen, fjorddurchzogenen Küsten lag die Stadt vor Anker, weiß ragte die Eisspitze wie ein Wahrzeichen über den verschachtelten Gebäuden aus Stahl auf, über den Ankermasten, den Lagerhallen, den an den Seiten wie Spinnenbeine abgespreizten Schwimmern, über den Wellen, die gegen das Hindernis anrannten und es mit weißer Gischt bespritzten. Ungezählte hohe Schornsteine verhinderten, dass die Stadt im schwarzen Rauch der industriellen Kohlefeuer erstickte. Auf der Spitze des Eisberges ragte die schwarz-weiß-rote Flagge des Deutschen Kaiserreiches auf, und daneben, eine Winzigkeit größer, die der freien Reichsstadt Æsta – bleigrau mit einem schwarzen Kreis, in dessen Einfassung eine weiße Eisbergspitze die reale, vom Rauch bereits grau benetzte Eisbergspitze zu verlachen schien.
    Schwarz und Stahl, Rost und Reif, Eis und Eisen – so ragte das Ziel meiner Reise auf, wie eine Ausgeburt des Ozeans, wie ein Ausläufer eines gigantischen Maschinenwerks, das auf dem Grund des Meeres verborgen lag. Auch vom Festland zogen Schwaden von Dampf und Rauch zu uns herauf – dorthin hatte Æsta seine Finger ausgestreckt, dort erbeuteten sie die begehrten Rohstoffe der unzugänglichen Eislande.
    „Auf See wird’s gleich rauer“, bemerkte der Kapitän und zog erneut den Rotz hoch. „Es ist schon ‘ne wahre Kunst, an den Masten anzulegen. Letztens hat ’ s ein Schiff richtig zerrissen, sinkend hat es eine von diesen verdammten neuen Stromleitungen erwischt und – bamm – alles in die Luft geflogen.“
    „Ich nehme an, Sie fliegen auch mit Wasserstoff?“, schlotterte ich.
    „Ja, und’s gibt auch keine Bedenken dagegen, wenn nicht so eine verdammte Stromleitung in der Nähe ist! Aber Juri hier kriegt die Wolkenkohle tausendprozentig an den Mast.“
    Juri war ein mickriger Russe, der ebenso wenig Deutsch sprach wie Ummo – ein weiterer Wilder, auf den das Schiff nicht verzichten konnte. Ich zog mich zurück auf die harte Sitzbank und umklammerte Ynge unter dem Mantel, den ich stets trug, weil es trotz der Schweine im benachbarten Laderaum erbärmlich kalt in der Kabine war.
    Schwitzend und frierend erwartete ich die Ankunft in Æsta – oder einen unschönen Tod.

    „Sieh nur, Ynge. Wir sind da!“ Das Meer toste in einer Lautstärke, die ich nie für möglich gehalten hatte. Was nicht mit Eis und Frost bedeckt war, war von winzigen Salzverkrustungen umgeben – Metall ächzte rostend um mich herum. Der Hafen bestand aus ins Eis getriebenen Masten, Stegen und Gittern im Bereich des Flugfeldes, aus Lagerhallen und tatsächlich auch einer kleinen Bucht, in der geschützt Boote und Dampfschiffe vor Anker lagen.
    Früher, zur Zeit der Vikingar, war die Seefahrt wohl beliebter gewesen als heutzutage, aber das Meer war nun schon seit Beginn der Kaltzeit extrem launisch und gefährlich, und daher hatte erst die Luftschifffahrt dem Entdeckerdrang wieder Aufwind gegeben. Den Atlantischen Ozean hatten wir immer noch nicht überqueren können, obwohl der Erdumfang und damit die Strecke bis Indien eigentlich recht genau bekannt waren – dank der Sonnenstandsmethode eines unaussprechlichen antiken Griechen. Stürme vernichteten alles, was sich über den riesigen Ozean hinwegbewegen wollte, und wenn sich die unterschiedlichsten Strömungen der Religion einmal einig waren, dann darin, dass es nicht Gottes Wille war, dass wir tatsächlich die Kugelgestalt der Welt überprüften.
    Temmhort und Kapitän Holzhauer schüttelten mir zum Abschied die Hand, und Ummo zeigte mit seinem barbarischen Humor bei einem knirschenden Lächeln seine lückenhaften Zähne. Hoffentlich gab es nicht viele dieser Wilden auf Æsta.Ich wusste, dass Friesen ob ihres Wagemuts und der physischen Präsenz, die das Leben in der rauen Natur gestählt hatte, als Arbeiter und Matrosen beliebt waren – aber ich fand, dass neben Mut und Muskeln doch sicherlich auch wichtig sein musste, dass jemand eine menschliche Sprache sprach und ein wenig Köpfchen hatte, Eigenschaften, die den Friesen durch die widrigen Umstände im ewigen Eis offenbar verlustig gegangen waren. Mit
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