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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte
Autoren: Madeleine L'Engle
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ein ganz besonderer, ein ganz wichtiger Junge ist. Und doch mußt du dich mit dem Gedanken abfinden, kleines Ding, daß es sehr schwer sein wird, ihn zu retten. Dazu muß man erst durch das Schwarze Ding durchgehen, dazu muß man erst wieder nach Camazotz … Also, ich weiß nicht, ich weiß nicht … «
    »Aber Vater hat ihn einfach dort gelassen!« sagte Meg. »Er muß ihn zurückholen. Er darf doch Charles Wallace nicht einfach im Stich lassen.«
    Das Tier schien plötzlich ungehalten. »Niemand redet davon, jemanden im Stich zu lassen. So etwas tun wir nicht. Aber daß man sich etwas wünscht, heißt noch nicht, daß man es auch gleich bekommt. Wir wissen ja zunächst nicht einmal, was zu tun ist. Keineswegs dürfen wir euch gestatten, in eurer gegenwärtigen Verfassung auf eigene Faust etwas zu unternehmen; das bringt uns am Ende selbst in Gefahr. Ich verstehe ja, daß du deinen Vater am liebsten Hals über Kopf nach Camazotz zurückschicken möchtest. Wahrscheinlich könntest du ihn sogar dazu überreden. Aber was wäre damit gewonnen? Nein, nein, zuallererst mußt du dich beruhigen. – Hier, mein kleines Ding, ist ein Gewand für dich. Es ist bequem und hält dich warm.«
    Meg wurde aufgerichtet, und ein Tier streifte ihr ein weiches, leichtes Kleid über.
    »Sorge dich nicht um deinen kleinen Bruder!« Die sanften Worte, die aus den Fühlern kamen, schienen sie zu streicheln. »Wir würden ihn nie jenseits des Schattens zurücklassen. Aber fürs erste mußt du dich entspannen, mußt dich wohlfühlen und wieder ganz gesund werden.«
    Die freundliche Zuspräche und die Gewißheit, daß dieses Tier sie ins Herz geschlossen hatte, ganz gleich, was sie auch sagte oder tat, erfüllten Meg mit Wärme und Frieden. Sie spürte, wie ein Fühler sie sanft an der Wange berührte, so zärtlich, als gäbe ihre Mutter ihr einen Kuß.
    »Meine eigenen Kinder sind schon lange erwachsen und haben mich verlassen«, sagte das Tier. »Und du bist noch so zart und zerbrechlich … So, und jetzt werde ich dich füttern. Du mußt langsam, ohne Hast essen. Du wirst ja schon halb verhungert sein! Trotzdem darfst du nichts überstürzen.«
    Ein Gefäß mit einer unbeschreiblich köstlichen Flüssigkeit wurde Meg an die Lippen gesetzt, und dankbar begann sie zu trinken. Mit jedem Schluck fühlte sie sich kräftiger. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie seit dem vorgeblichen Brathähnchen auf Camazotz nichts mehr in den Magen bekommen hatte, und selbst damals hatte sie kaum zugelangt. Wie lange war es her, daß Mutter ihnen den Eintopf auf den Tisch gestellt hatte? Die Zeit hatte alle Bedeutung verloren.
    »Wie lange bleibt es hier Nacht?« fragte sie schläfrig.
    »Pst!« mahnte das Tier. »Erst einmal wird gegessen, kleines Ding. Jetzt ist Kühle; da schlafen wir. Und wenn du wieder aufwachst, ist Wärme; dann werden wir viel zu tun haben. Bis dahin wirst du essen und ruhen, und ich bleibe bei dir.«
    »Wie soll ich eigentlich zu dir sagen?« fragte Meg.
    »Hm.« Das Tier zögerte unschlüssig. »Sei einen Augenblick still und denke nach. Denke in deinen eigenen Worten. Denke dir vor, wie du die verschiedenen Dinge bezeichnest, die ihr auf eurem Planeten Menschen nennt.«
    Meg überlegte, und das Tier schien in ihre Gedanken zu fühlen, denn es nahm leise zu jedem Begriff Stellung:
    »Nein, Mutter ist ein ganz besonderer Name und einem bestimmten Menschending vorbehalten. – Ein Vater ebenfalls; außerdem hast du deinen hier. – Nein, Freund ist zu wenig. – Lehrer. Bruder. Schwester. Das paßt alles nicht. – Was ist ein Bekannter? So ein spaßiges, holpriges Wort! – Tante. Hm, das schon eher. Ja, das könnte mir gefallen. – Was für seltsame Worte du für mich ausdenkst: Wesen. Gestalt. Sogar Monster. Wie schrecklich das klingt! Ich glaube nicht, daß ich ein Monster sein möchte. Tier. Das hört sich gleich besser an. Warum bleiben wir nicht dabei? Du kannst Tantentier zu mir sagen.«
    »Tantentier … « murmelte Meg schläfrig und kicherte.
    »Habe ich etwas Komisches gesagt?« fragte das Tier überrascht. »Ist Tantentier denn nicht in Ordnung?«
    »O, doch! Es ist sogar ein sehr schöner Name!« sagte Meg rasch. »Singst du mir etwas vor, liebes – Tantentier?«
    So wenig es Meg möglich war, dem Tantentier zu erklären, was Licht oder Sehen bedeutete, so wenig hätte sie jemandem beschreiben können, wie der Gesang beschaffen war, den sie jetzt vernahm. Es waren Töne, die sich nicht einmal mit der Lobpreisung der
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