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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)
Autoren: René Menez
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an.
    „Die Wölfe werden dich zerreißen! Unsere Ahnen werden sich an dir sattfressen!“
    Es war nicht der Haß, den ihre Schwester dem Spitzgesicht entgegenbrachte, sondern der Sinn ihrer Worte, der Maramir traurig stimmte. Sie wußte, das Spitzgesicht war eine leichte Beute für die Ahnen. Die Fährte des Blutes würde sie zu ihm führen. - Die Wölfe waren in der Zeit der größten Kälte, von Hunger getrieben, zu fast allem bereit und scheuten kaum einen Gegner. Sie waren gefährlich, mitunter sogar blind im Blut- und Fleischrausch. Mehr als einmal hatten die Ahnen in Wolfsgestalt Kinder sowie kranke und schwache Männer und Frauen ihres Stammes während der Schlafzeit des Großen Himmelsfeuers getötet. Es gab viele Geschichten darüber. Grauer Wolf, der wortkarge, heilige Mann mit dem silbergrauen Haar, der einen Wolf in Menschengestalt verkörpert hatte, wußte, warum die Ahnen ihre Gefährten auf diese Weise zu sich holten. Es waren nicht immer dieselben Gründe. Welche Gründe die Alten auch genannt hatten, wie schön und traurig die Geschichten auch gewesen sein mochten - Maramir hatte gesehen, wie grausam die Ahnen sein konnten. Im Todeskampf hatten ihre Opfer vor Angst geschrien, hatten sich in quälendem Schmerz verzweifelt zu wehren versucht. Keiner wollte so sterben. Erbarmungslos rissen die Wölfe ihre Beute, kämpften wild miteinander um das Fleisch, und gelegentlich töteten und fraßen sie sich sogar untereinander. Maramir glaubte nicht daran, daß der bloße Hunger der einzige Grund für ihre grausamen Taten war, aber sie wußte: der Hunger macht sie zu Bestien.
    Mehr als Mitleid regte sich in ihr, als sie dem Spitzgesicht zusah, wie es sich abwendete und humpelnd fortschleppte über die angetaute dünne Eisschicht, die unter seinen Füßen immer wieder brach. Sie mußte daran denken, wie er ihre Augen betrachtet und diese berührt hatte. - Wegen der Farbe ihrer Augen nannte man sie Maramir – Warmauge. Denn grün, und besonders helles Grün, war die Farbe einer neuen Warmzeit. Und ihre Mutter war sich sicher gewesen, nachdem Maramir in der Zeit geboren worden war, als die jungen Triebe im hellen Grün zart glänzten, daß ihre Tochter das Leben selbst verkörperte. Der ganze Stamm hatte daran geglaubt, daß durch ihre Augen die Ahnen auf sie sahen. Man hatte ihr prophezeit, daß sie bald eine heilige Frau sein würde, wie einst die Mutter ihrer Mutter, auch sie hatte diese grünen Augen gehabt. Nur Kar glaubte nicht daran. Denn wenn jemand mit den Augen der Ahnen sehen konnte, dann war es Kar. Mehr als einmal hatte Maramir erlebt, daß ihre Schwester mit den Geistern sprach. Der Sinn ihrer Worte und der Ausdruck ihrer Augen währenddessen – klar und deutlich, so als ob sie tatsächlich jemanden vor sich sah. In solchen Momenten kam es Maramir so vor, als ob da noch jemand in dem Körper ihrer Schwester wohnte, jemand, der Maramir fremd erschien und eine Kälte ausstrahlte, daß es sie schauderte bei jeder bloßen Erinnerung daran.
    Maramir sah dem Fremden nach, bis er so weit weg war, daß sie sein Stöhnen und die unterdrückten Schmerzenslaute nicht mehr hören konnte.
    „Was ist los mit dir Leikika?“
    Kars Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Wangen, und ihr Kopf wurde herumgerissen – sie sah in das wutverzerrte Gesicht ihrer Schwester. Kars schneller Atem traf sie wie Schläge ins Gesicht, während sich ihre Worte beinahe überschlugen.
    „Was ist? Was soll das? Ist dein Geist verwirrt? - Wie du das häßliche Spitzgesicht ansiehst ...“
    In ihrer Wut ballte Kar drohend eine zitternde Faust vor Maramirs Gesicht, so daß die Knöchel ihrer blutbefleckten Hand dabei spitz hervorragten. Dann packte sie Maramir an den Schultern und riß sie hin und her. Sie schrie: „Er ist unser Feind, Leikika! Er ist unser Feind!“
    Wutentbrannt zerrte Kar an ihr, bis Maramir schließlich stürzte. Tränen der Wut schossen Maramir in die Augen.
    „Warum hat er dich dann nicht getötet?“, kreischte sie zurück.
    „Die Ahnen wollen, daß wir leben. Sie haben ihn verwirrt. Und du solltest ihnen dafür danken!“, entgegnete Kar mit scharfer Stimme.
    Maramirs Wut verging schlagartig. Sollte Kar damit recht haben?
    Zitternd, mit rotgeweinten Augen trat Leinocka flehend an Kar heran.
    „Kar, nicht töten Maramir!“
    Im ersten Augenblick erschrak Kar vor Leinockas maßloser Angst und ihren wahnsinnigen Worten – doch der Zorn siegte.
    „Was redest du?“
    Wütend stieß Kar Leinocka zu
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