Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Titel: Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Autoren: Rudolf Taschner
Vom Netzwerk:
Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische führen. Der Kreis auf der Himmelskugel, den die Sonne durchzieht, heißt Ekliptik. Das Wort stammt vom griechischen ekleípein und bedeutet„verschwinden“. Warum dieser eigenartige Name gewählt wurde, werden wir bald verstehen. Ziemlich genau 365 Tage und einen Vierteltag benötigt die Sonne, um die Ekliptik zu durchlaufen. Wenn ein Astronom des alten Babylon den Stand der Sonne anvisierte und genau zwölf Stunden später entlang dieser Visierlinie auf das Sternenzelt blickte, wusste er, welches der zwölf Sternzeichen der Sonne genau gegenübersteht.
    Unser modernes heliozentrisches Weltbild lehrt, dass nicht die Sonne entlang der Ekliptik läuft, sondern dass sich die Erde im Laufe eines Jahres einmal um die Sonne bewegt. Es sind die verschiedenen Positionen entlang der Erdbahn, die bewirken, dass sich die Sonne entlang der Ekliptik scheinbar vor die Sternzeichen stellt.
    Der Mond hingegen umrundet tatsächlich die Erde, und seine Bahn entlang des Sternenzeltes ist ebenfalls eine geschlossene Kreislinie, die er sehr schnell, nämlich innerhalb von 27 Tagen und knapp acht Stunden, einem sogenannten siderischen Monat, durchläuft. Weil aber in dieser Zeitspanne auch die Sonne scheinbar entlang der Ekliptik weitergewandert ist, wird der Mond nach diesem siderischen Monat nicht im gleichen Winkel von der Sonne beleuchtet. Um gegenüber der Sonne wieder die gleiche Position einzunehmen, braucht der Mond ein wenig länger, nämlich den sogenannten synodischen Monat, der ziemlich genau 29 Tage und zwölf Stunden dauert. Nach einem synodischen Monat sieht man den Mond wieder in der gleichen Phase. Die Monate, welche die Astronomen des Zweistromlandes zur Einteilung der Zeit definierten, richteten sich nach diesen Mondphasen: Sie dauerten abwechselnd 29 und 30 Tage. Immer bei Vollmond feierte das Volk des Zweistromlandes seine Götter und pilgerte zu den Tempeln. Man machte sich nicht während des glühend heißen Tages auf den mühsamen Weg, sondern in der angenehm kühlen Nacht. Und um sich nicht zu verlaufen, benötigte man das Licht des Mondes. Auch der jüdische Festkreis ist auf den Vollmond ausgerichtet: Pessach, das Fest, bei dem der Befreiung aus dem ägyptischen Joch gedacht wird, wird am Vollmond des ersten Frühlingsmonats Nissan gefeiert. Und das Osterfest, das sich am jüdischen Pessach orientiert, ist auf den Sonntag danach festgesetzt.
    Der Kreis, den der Mond auf dem Himmelszelt durchläuft, führt auch durch die zwölf Sternzeichen des Tierkreises. Er stimmt aber nur fast, nicht genau mit der Ekliptik überein. Fiele die Mondbahn präzise mit der Ekliptik zusammen, erblickten wir bei jedem Neumond eine Sonnenfinsternis, weil sich der Mond, dessen von der Erde abgewandte Seite bei Neumond von der Sonne beschienen wird, direkt vor die Sonne schöbe und sie verdeckte. Und wir erblickten bei jedem Vollmond eine Mondfinsternis, weil zu diesem Zeitpunkt die Erde genau in den Strahl von der Sonne zum Mond träte und ihren Schatten auf den Mond würfe. Weil jedoch die Mondbahn zur Ekliptik in einem Winkel von rund fünf Grad geneigt ist, kommt es bei Neumond nur selten zu einer Sonnenfinsternis und bei Vollmond nur selten zu einer Mondfinsternis.
    All dies war den babylonischen Gelehrten bekannt – das Volk selbst wusste davon nichts.
    Mit großer Präzision vermaßen die Astronomen die Bahn des Mondes von ihren Zikkuraten aus, den gestuften Tempeltürmen, die sie nicht nur über den Dunst der Stadt, sondern auch über das gemeine Volk erhoben. Zur einen Hälfte liegt die Mondbahn über der Ekliptik, zur anderen Hälfte liegt sie unter ihr. An zwei diametral gegenüberliegenden Stellen auf der Himmelskugel schneidet die Mondbahn die Ekliptik. Diese zwei Punkte auf der Ekliptik heißen die Knoten der Mondbahn. Die babylonischen Gelehrten nannten sie den „Drachenkopf“ und den „Drachenschwanz“.
    Denn, so erzählten die Gelehrten ihren staunenden Zuhörern, auf dem Himmelszelt haust der geheimnisvolle Drache Tiamat. Wo sein Kopf lauert, beginnt die Mondbahn sich über die Ekliptik zu heben. Wo auf der Gegenseite der Himmelskuppel sein Schwanz ist, stößt die Mondbahn wieder auf die Ekliptik und sinkt unter sie. Und manchmal, zu einer Zeit, die nur die Götter kennen, verschlingt der Drache mit seinem Kopf die Sonne. Oder der Drache schnürt mit seinem Schwanz die Sonne ein.
    Angsterfüllt fragten die Zuhörer die gelehrten Priester:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher