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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition)
Autoren: Brigitte Pons
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Nichts hatte sich geändert; nichts, trotz der vielen Gespräche mit Henry und Viktor.
    Nur, dass er auf Viktor nicht mehr wütend war, und auch nicht auf Elisabeth. Das war immerhin etwas. Vielleicht konnte er ihr sogar irgendwann manches verzeihen.
    »Weißt du«, sagte er jetzt zu der nassen Erde und den Blumen und fühlte sich ein wenig lächerlich dabei, »Katja hat mir auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. Wir sollten die Vergangenheit begraben und vergessen. Aber ich glaube, dann kommt die Vergangenheit wieder, um uns zu foltern. Wir müssen unsere Vergangenheit wohl doch einfach akzeptieren und mit ihr leben. Ob wir wollen oder nicht.«
    Das Brennen in seinen Eingeweiden ließ nicht nach.
    »Weißt du«, setzte er erneut an, »vielleicht schaffe ich es, den Teil der Vergangenheit anzunehmen, an dem ich sowieso nichts ändern konnte. Die Geschichte mit dir und Viktor …« Er steckte die geballten Fäuste in die Hosentaschen. »Aber wie … du musst das doch wissen, wie lebt man weiter, wenn man einem anderen Menschen wissentlich die Zukunft zerstört hat?«

* * *
    Man führte Henry durch einen langen Flur mit braunen Fliesen auf dem Boden, in die alle paar Meter ein Abflussgitter eingelassen war. Links und rechts graue Türen mit Guckloch, farblich aufgelockert durch feuerrote Alarmknöpfe. Das Zentrale Polizeige wahrsam im Präsidium. Hier musste sie vermutlich nur für einige Stunden bleiben. Sie hatte den skurrilen Eindruck, neben sich selbst herzugehen, wie losgelöst von ihrer Existenz. Beobachtete unbeteiligt, gleichsam von außen, was mit ihr passierte, regis trierte Worte und Abläufe ohne jede Gefühlsregung. Als sich eine der Türen hinter ihr schloss, blieb sie zunächst einfach stehen. Dann ließ sie sich auf der Betonpritsche in der Ecke nieder, be trachtete die Zelle. Drei Meter lang, zwei Meter breit. Graue Wände und Kacheln, abwaschbar von oben bis unten, weil sich die Kundschaft gerne mal erbrach oder sich mithilfe anderer Körper ausscheidungen danebenbenahm. Keine Möbel, die man als Waffe gegen sich selbst oder andere verwenden konnte. Nur eine Matratze und eine Decke, eine Toilettenschüssel aus Edelstahl. Bruchsicher. Nichts, womit Verletzungen herbeizuführen waren, es sei denn, man schlug den Kopf dagegen. Sogar die Schuhe hatte sie ausziehen und draußen vor der Tür abstellen müssen.
    Müde von den vielen Gesprächen lehnte Henry den Kopf gegen die kühle Zellenwand. Immer wieder dieselben Worte, dieselben Fragen. Sie antwortete geduldig, ohne zu überlegen. Die Zeit der Geheimnisse war vorbei. Jeder musste nun für das geradestehen, was er getan oder nicht getan hatte. Sie, Moosbacher und Adrian.
    Auch seine Rolle in der Geschichte war zur Sprache gekommen. Bis auf den Verlauf der vergangenen Nacht war sie uneingeschränkt bei der Wahrheit geblieben. Es war ihr egal, was er dazu aussagte, und auch, wie lange sie hierbleiben musste. Ob der Haftrichter sie heute noch sehen wollte oder sich Zeit bis zum nächsten Morgen lassen würde.
    Noch im Versorgungsraum hatte sie darum gebeten, Eberhard Moosbacher behutsam zu behandeln und ihm und Anneliese den Tod ihres Sohnes schonend mitzuteilen. Dann hatte sie Jürgen zum Abschied geküsst. Es interessierte sie nicht, was die Polizisten von ihr dachten.
    Sie zog die Knie an und legte das Gesicht auf ihre Arme. Zwischen den Maschen ihres Pullovers hing Adrians Geruch, so wie er in ihren Haaren gefangen war und auf ihrer Haut haftete. Eingebrannt in ihrer Erinnerung. Sie unterdrückte ein Schluchzen, während sie zögernd den Gedanken an ihn zuließ.
    Adrian hatte sie verraten und trotzdem richtig gehandelt. Es war nicht seine Schuld, wie alles gekommen war. Nur durch sie war er überhaupt in diese Sache reingeschlittert. Das war die Wahrheit.
    Henry versuchte nicht länger, die Tränen zurückzuhalten. Es schmerzte sie, ihn loszulassen nach diesem kleinen bittersüßen Augenblick, in dem sie eins gewesen waren und den es nicht hätte geben dürfen. Gefühle interessierten sich nicht für äußere Umstände, sie überfielen ungebeten und mächtig. Sie hatten beide keinen Widerstand geleistet, nicht gekonnt, nicht gewollt. Es war nur eine Nacht. Nichts weiter. Eine Nacht ohne Bedeutung. Sie selbst hatte ihm gesagt, dass man Sex von Liebe trennen könne. Dass er dann nicht zähle. Und dabei musste es bleiben. Sie musste es ihm leicht machen und ihn aus ihrem Leben werfen. Endgültig.

Tag 17 – Mittwoch
    Im Büro seines
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