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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke
Autoren: Gudrun Pausewang
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bißchen Kleingeld.
    »Du bist ja nicht aus der Welt«, sagte sie.
    Janna-Berta bat sie, ihr die große Jutetasche zu borgen.
    Noch am späten Abend ging sie hinaus, ohne daß es die anderen merkten, und tat den kleinen Klappspaten, den sie ein paar Tage zuvor im Geräteschuppen entdeckt hatte, in die Jutetasche.
     
    Am nächsten Morgen brach sie sehr früh auf, aber doch nicht so früh, daß die Großmutter sie nicht gehört hätte. Sie kam aus dem Kinderzimmer geschlichen und drückte ihr das flauschige, weiße Gestrick in die Hand.
    »Eine Mütze«, flüsterte sie. »Die Oktobermorgen können schon kalt sein. Und du hast mir erzählt, daß im Herbst oft Nebel im Fuldatal liegt. Du wirst sie brauchen können.«
    Janna-Berta schob sie in die Jutetasche, umarmte die Großmutter, küßte sie auf die flaumige Wange und dankte ihr für die schöne Mütze. Dann lief sie zur Bushaltestelle hinunter. Sie trug dieselbe Hose, dasselbe T-Shirt, mit dem sie nach Wiesbaden gekommen war. Nur der Anorak war neu. Der hatte Irmelas und Ruths Mutter gehört. Die Großmutter hatte ihn ihr geschenkt, gleich nachdem sie bei ihnen eingezogen war.

15
    Es nieselte. Über dem Rheintal lag Nebel. Aber Janna-Berta brauchte an der Autobahnauffahrt nicht lange zu warten. Schon der zweite Wagen, der anhielt, fuhr in Richtung Kassel. Eine Frau saß am Steuer. Mit einem Blick auf Janna-Bertas Kopf begann sie sogleich die Leidensgeschichte ihrer Schwester zu erzählen, die in Bad Neustadt an der Saale gelebt und alles verloren hatte.
    »Alles!« rief die Frau.
    »Aber sie lebt doch noch«, sagte Janna-Berta.
    Die Frau hörte gar nicht zu, sondern erzählte weiter. Janna-Berta brauchte nicht zu antworten. Sie döste vor sich hin.
    Die Fahrt ging nur bis zur Abfahrt Gießen Ost. Dort pflückte Janna-Berta einen großen Strauß aus einem Sonnenblumenfeld, bis sie ein bärtiger Student in einem uralten Fiat mitnahm. Sie hatte Glück: Der Student wollte nach Berlin. Als er hörte, daß sie in die ehemalige Sperrzone DREI wollte, machte er ein bedenkliches Gesicht.
    »Ich hab dort noch was zu erledigen«, sagte sie und bat ihn, sie bei Bad Hersfeld abzusetzen.
    »Überleg dir's noch mal«, meinte er. »So wichtig kann das, was du dort zu tun hast, doch nicht sein.«
    Aber sie war entschlossen. Als er hielt, bedankte sie sich und stieg aus. Dabei rutschte ihr der Klappspaten aus der Tasche. Der Student starrte auf den Spaten, dann auf sie.
    »Willst du etwas ausgraben?« fragte er.
    »Ich will jemanden begraben«, antwortete sie.
    »Die Toten sind alle begraben«, sagte er. »Sogar die Tierkadaver. Dafür haben sie gleich Spezialtrupps hineingeschickt.«
    »Ich glaube nicht«, sagte Janna-Berta, »daß die auch in den Rapsfeldern gesucht haben.«
    »Wer ist es?«
    »Mein kleiner Bruder.«
    »Steig wieder ein«, sagte der Student. »Ich fahr dich hin.«
    Er fuhr mit geschlossenen Fenstern. Sie verstummten beide während der Fahrt. Kurz vor Asbach bat sie ihn zu halten, bedankte sich, reichte ihm eine Sonnenblume aus ihrem Strauß und stieg aus. Er wendete und machte, daß er davonkam. Auf der breiten Bundesstraße 62 war fast kein Verkehr. Sie machte nicht den Umweg über das Dorf, sondern stapfte quer über die Felder. Zwischen hoch aufgeschossenem Unkraut entdeckte sie verkümmerte Kartoffelstauden. Sie erreichte den Bahndamm und blieb stehen. Lange sah sie zum Dorf hinüber. Die ganze sanfte Tallandschaft hatte einen bräunlichen Schimmer. Im Dorf drüben standen schon ein paar Bäume entlaubt. Sie holte tief Luft und kletterte über die Böschung auf den Damm.
    Da lag noch ihr Rad neben den Schienen, verrostet, und auf dem Gepäckträger klemmte die Schultasche. Dahinter aber, den halben Horizont füllend, lag das unabgeerntete Rapsfeld und ließ sich nichts anmerken.
    Sie kletterte langsam den Damm hinunter, auf Ulis verbogenes Fahrrad zu, das auf der Böschung lag. Die Plastiktüte war zerfetzt. Tiere hatten wohl daran gezerrt, um an den Proviant zu kommen. Auf dem unkrautüberwucherten Schotterweg entdeckte sie den Teddybär. Er war plattgefahren und verstaubt. Seine sattbraune Farbe war verblaßt.
    Sie hob den Sonnenblumenstrauß hoch über den Kopf und watete in das Feld hinein. Vorsichtig tastete sie sich mit den Füßen voran und bog die Stengel auseinander. Sie mußte eine Weile suchen, bis sie Uli fand. Melde und wilde Kamille hatten das, was von ihm übrig war, fast ganz bedeckt. Es stank nicht mehr. Der Hausschlüssel hing noch an dem
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