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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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oder durch die Fenster fliegen und in der Sonntagssuppe landen, höre die Schreie, das Stöhnen der Menschen, denen die Bombe die Gliedmaßen abgerissen hat, wie ein neugieriger Bub Insekten die Beine ausrupft, das stumpfsinnige Vorsichhinbrüten der Überlebenden, eine eigenartige Stille, die sich wie Watte auf das Trommelfelllegt, den Beginn der langen Furcht. Ruhig? Ja, ich bewahre die Ruhe, egal, was passiert, ich lasse mir nichts anmerken, ich bleibe ruhig, unbewegt, wie die stummen Fassaden ausgebombter Städte, wie die kleinen Alten auf den Parkbänken mit ihren Spazierstöcken und Medaillen, wie die Gesichter Ertrunkener dicht unter der Wasseroberfläche, die man nie wieder findet. Selbst wenn ich es wollte, wäre ich völlig außerstande, diese schreckliche Ruhe zu durchbrechen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die bei jeder Kleinigkeit einen Aufstand machen, ich bewahre Haltung. Aber auch mich bedrückt das. Am schlimmsten sind nicht unbedingt die Vorstellungen, die ich gerade beschrieben habe. Mit derartigen Fantasien lebe ich schon lange, wahrscheinlich seit meiner Kindheit, auf jeden Fall lange bevor auch ich mich inmitten der Schlächterei wiederfand. So gesehen, war der Krieg für mich nur eine Bestätigung, und ich habe mich an diese kleinen Szenarien gewöhnt, ich begreife sie als einen passenden Kommentar zur Nichtigkeit der Dinge. Nein, als beschwerlich und belastend hat sich der Umstand erwiesen, dass ich nichts anderes mehr zu tun hatte als nachzudenken. Überlegt einmal: Woran denkt ihr im Laufe eines Tages? Im Grunde an sehr wenig. Es wäre doch ein Leichtes für euch, eure alltäglichen Gedanken vernünftig zu klassifizieren: praktische oder mechanische Gedanken, Planung der Zeit- und Handlungsabläufe (Beispiel: Kaffeewasser vor dem Zähneputzen aufsetzen, aber erst danach Brot toasten, weil es früher fertig ist), berufliche Probleme, Geldsorgen, häusliche Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien. Ich erspare euch die Einzelheiten. Beim Abendessen betrachtet ihr das alternde Gesicht eurer Frau, die euch viel reizloser erscheint als eure Geliebte, ansonsten aber in jeder Hinsicht die Richtige ist; was soll’s, so ist das Leben, also redet ihr über die letzte Regierungskrise. In Wahrheit ist euch die letzte Regierungskrise herzlich egal, aber über was solltet ihr sonst reden? Klammert diese Gedankenaus, und ihr werdet mir zustimmen, dass nicht viel bleibt. Natürlich gibt es auch andere Augenblicke. Zwischen zwei Waschmittelwerbungen unerwartet ein Tango aus der Vorkriegszeit, sagen wir, Violetta , und schon sind auch das nächtliche Plätschern des Flusses, die Lampions der Buden und der leichte Schweißgeruch auf der Haut einer heiteren Frau wieder da; am Eingang eines Parks ruft das lächelnde Gesicht eines Kindes dasjenige eures kleinen Sohnes wach, kurz bevor er laufen lernte; auf der Straße bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und bringt die großen Blätter und den weißlichen Stamm einer Platane zum Leuchten: Und plötzlich denkt ihr an eure Kindheit, an den Schulhof, auf dem ihr Krieg spieltet, mit Schreckensgeschrei und Glücksgeheul. Da habt ihr einen menschlichen Gedanken. Aber das kommt sehr selten vor.
    Doch wenn man die Arbeit, die banalen Verrichtungen, die alltägliche Hektik unterbricht, um sich ernsthaft einem Gedanken zu widmen, sieht alles ganz anders aus. Dann kommen die Dinge bald in schweren schwarzen Wellen hoch. Nachts zergehen die Träume, entfalten und vervielfältigen sich und lassen eine feine feuchtbittere Schicht im Kopf zurück, die nach dem Aufwachen lange braucht, bis sie sich auflöst. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Die gibt es natürlich auch, das will ich nicht leugnen, aber mir scheint, die Dinge liegen viel komplizierter. Selbst ein Mensch, der nicht im Krieg war, der nicht töten musste, wird erlebt haben, wovon ich rede. Die Rückkehr der kleinen Bosheiten, Feigheiten, Falschheiten und Schäbigkeiten, die wir uns alle irgendwann haben zuschulden kommen lassen. Kein Wunder also, dass die Menschen die Arbeit erfunden haben, den Alkohol, das müßige Geschwätz. Kein Wunder, dass das Fernsehen solche Erfolge feiert. Kurzum, ich beendete meinen leidigen Urlaub schon bald, es war besser so. Für meineSchreiberei blieb mir trotzdem genügend Zeit, morgens beim Frühstück und abends, wenn die Sekretärinnen gegangen waren.
    Eine kurze Pause, um mich zu übergeben, und ich fahre fort.
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