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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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spüren. Aber er verstand sehr wohl, dass wir ein gemeinsames Interesse hatten: ich, eine Stellung zu bekommen, und er, die seine zu behalten. Er hatte einen Vetter in Nordfrankreich, einen ehemaligen Vertreter, der versuchte, ein kleines Unternehmen aufzuziehen, und zwar mit drei Leavers-Maschinen, die er von einer Witwe, die Konkurs gemacht hatte, gekauft hatte. Dieser Mann stellte mich als Reisenden ein, als Vertreter für seineSpitzen. Die Arbeit ging mir entsetzlich auf die Nerven; schließlich gelang es mir, ihn zu überzeugen, dass ich ihm auf organisatorischer Ebene weit nützlicher sein könnte. Immerhin hatte ich beträchtliche Erfahrung auf diesem Gebiet, auch wenn ich mich auf sie so wenig berufen konnte wie auf meinen Doktortitel. Die Firma wuchs, besonders seit den fünfziger Jahren, als ich wieder Kontakte in der Bundesrepublik aufnahm und es mir gelang, uns Zugang zum deutschen Markt zu verschaffen. Damals hätte ich leicht nach Deutschland zurückkehren können: Viele meiner alten Kameraden lebten dort in Ruhe und Frieden; einige hatten kleine Strafen verbüßt, andere waren nicht einmal belangt worden. Mit meinem Werdegang hätte ich meinen Namen wieder annehmen, meinen Titel wieder führen, eine Pension nach dem 131er Gesetz und eine Kriegsversehrtenrente beantragen können, niemand hätte etwas bemerkt. Arbeit hätte ich rasch gefunden. Aber, so sagte ich mir, was hätte ich davon gehabt? Die Rechtswissenschaft ließ mich im Grunde ebenso kalt wie das Geschäftsleben, und dann hatte ich am Ende doch noch Gefallen an den Spitzen gefunden, diesen entzückenden und geschmackvollen Schöpfungen des Menschen. Als wir genügend Webmaschinen zusammengekauft hatten, beschloss mein Chef, eine zweite Fabrik zu eröffnen und mir die Leitung anzuvertrauen. Seither bekleide ich diesen Posten und warte auf den Ruhestand. In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet, zwar mit einem gewissen Widerwillen, aber hier in dieser nördlichen Region ließ sich das kaum vermeiden, es war nötig, um meine gesellschaftliche Stellung zu festigen. Ich habe eine Frau aus gutem Haus gewählt, sie ist ganz hübsch, repräsentabel, und ihr gleich ein Kind gemacht, um sie zu beschäftigen. Leider bekam sie Zwillinge, das muss in der Familie liegen, will sagen, in meiner Familie, ein Balg wäre für meinen Geschmack mehr als genug gewesen. Mein Chef hat mir Geld vorgestreckt, ich habe mir ein stattlichesHaus gekauft, nicht allzu weit vom Meer entfernt. So habe ich mich in bürgerlichen Verhältnissen wiedergefunden. Und das war auch besser so. Nach allem, was geschehen war, hatte ich in erster Linie das Bedürfnis nach Ruhe und Regelmäßigkeit. Das Leben hatte den Träumen meiner Jugend die Flügel gestutzt, und meine Ängste hatten sich auf dem Weg vom einen Ende des deutschen Europas zum anderen allmählich verflüchtigt. Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Daher kam mir ein Leben, das allen gesellschaftlichen Konventionen Rechnung trug, gerade recht: eine bequeme Gangart, auch wenn ich sie oft mit Ironie und manchmal sogar mit Hass betrachte. Ich hoffe, auf diese Weise eines Tages in Jeromino Nadals Zustand der Gnade zu gelangen und keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren, es sei denn dazu, keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren. Aber ich werde literarisch; einer meiner Fehler. Um heiliggesprochen zu werden, habe ich mich noch nicht von meinen Bedürfnissen befreit. Von Zeit zu Zeit beehre ich meine Frau, gewissenhaft, mit wenig Lust, aber auch ohne übermäßigen Ekel, um den häuslichen Frieden aufrechtzuerhalten. Und ab und an, auf Geschäftsreisen, gebe ich mir Mühe, an alte Gewohnheiten anzuknüpfen; aber sozusagen nur noch aus hygienischen Gründen. All das hat für mich viel von seinem Reiz verloren. Der Körper eines schönen Jünglings, eine Skulptur von Michelangelo, das macht keinen Unterschied: Der Atem stockt mir nicht mehr. Es ist wie nach einer langen Krankheit, wenn einem nichts mehr schmeckt, wenn es egal ist, ob man Rind oder Huhn isst. Man muss Nahrung zu sich nehmen, das ist alles. Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde. Möglicherweise an der Literatur, aber auch da weiß ich nicht so recht, ob es nicht reine Gewohnheit ist. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Erinnerungen auf: um mein Blut in Wallungzu bringen, um zu sehen, ob ich noch etwas empfinde, ob ich noch ein
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