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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten
Autoren: Jonathan Littell
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Geduld dazu aufbringe. Aber damals davon zu sprechen hätte keinen Sinn gehabt. Das Buch war übrigens sehr schlecht – verworren und wehleidig, es trieft vor einer seltsam frömmelnden Scheinheiligkeit. Diese Aufzeichnungen mögen vielleicht ebenfalls verworren und schlecht sein, doch ich werde mich darum bemühen, klar zu bleiben. Ich kann euch versichern, dass sie zumindest frei von jeglicher Reue sein werden. Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht. Meine Familienangelegenheiten, von denen ich vielleicht auch noch erzähle, betreffen nur mich allein. Was das Übrige angeht, habe ich zum Ende hin sicherlich den Bogen überspannt, aber da war ich schon nicht mehr ganz ich selbst, ich taumelte, und um mich herum geriet die ganze Welt ins Wanken, ich war nicht der Einzige, der den Verstand verlor, das müsst ihr mir zugutehalten. Und außerdem schreibe ichnicht, um meine Witwe und meine Kinder zu versorgen, denn ich bin sehr wohl in der Lage, für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Nein, wenn ich mich endlich zum Schreiben entschlossen habe, dann sicherlich, um mir die Zeit zu vertreiben, womöglich auch, um ein oder zwei dunkle Punkte zu klären – für euch vielleicht und für mich selbst. Zudem glaube ich, dass es mir guttun wird. Denn meine Stimmung ist eher trübe. Was bestimmt an der Verstopfung liegt. Ein leidiges und schmerzhaftes Problem und für mich neu; früher verhielt es sich genau umgekehrt. Lange Zeit musste ich dreibis viermal am Tag auf die Toilette, wenn es heute einmal pro Woche wäre, könnte ich von Glück reden, so bin ich auf Einläufe angewiesen, eine denkbar unerquickliche, aber wirksame Prozedur. Ihr müsst schon verzeihen, dass ich euch mit so anstößigen Einzelheiten komme: Ich habe doch wirklich das Recht, ein bisschen zu klagen. Und wenn ihr das nicht aushaltet, tätet ihr gut daran, die Lektüre schleunigst abzubrechen. Ich bin nicht Hans Frank, ich hasse Getue. Im Rahmen meiner Möglichkeiten möchte ich so genau wie möglich sein. Trotz meiner Schwächen, und davon hatte ich einige, gehöre ich zu denen, die meinen, nur wenige Dinge im menschlichen Leben seien wirklich unentbehrlich: Luft, Essen, Trinken, Verdauung und die Suche nach Wahrheit. Der Rest ist Beiwerk.
    Vor einiger Zeit hat meine Frau eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht, vermutlich wollte sie mir eine Freude machen. Natürlich hatte sie mich nicht gefragt. Sie ahnte wohl, dass ich es kategorisch abgelehnt hätte, da hat sie mich lieber vor vollendete Tatsachen gestellt. Als das Tier einmal da war, ließ sich nichts mehr daran ändern, die Enkelkinder hätten geweint und so weiter. Trotzdem war diese Katze äußerst unangenehm. Wenn ich sie streicheln wollte, um meinen guten Willen unter Beweis zu stellen, verzog sie sich aufs Fensterbrett und starrte mich mit ihren gelben Augen an.Machte ich Anstalten, sie auf den Arm zu nehmen, kratzte sie mich. Nachts aber rollte sie sich auf meiner Brust zusammen, eine beklemmende Last, und im Schlaf träumte ich, ich würde unter einem Steinhaufen erstickt. Mit meinen Erinnerungen erging es mir ganz ähnlich. Als ich zum ersten Mal daran dachte, sie schriftlich niederzulegen, nahm ich Urlaub. Was vermutlich ein Fehler war. Dabei hatte alles gut angefangen: Ich hatte eine beträchtliche Anzahl von Büchern zu dem Thema gekauft und gelesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Organigramme gezeichnet, detaillierte Zeittafeln angelegt und so fort. Doch mit diesem Urlaub hatte ich plötzlich Zeit und begann nachzudenken. Außerdem war gerade Herbst; während ein schmutzig grauer Regen die Bäume entlaubte, stieg langsam die Angst in mir auf. Ich stellte fest, dass mir das Denken nicht guttat.
    Dabei hätte ich darauf gefasst sein können. Meine Kollegen halten mich für einen ruhigen, bedächtigen, überlegten Menschen. Ruhig, das schon, aber sehr oft am Tag beginnt es in meinem Kopf zu fauchen und zu grollen, dumpf wie im Ofen eines Krematoriums. Ich rede, diskutiere, treffe Entscheidungen wie alle Welt, doch an der Theke, vor meinem Kognak, male ich mir aus, wie ein Mann mit einem Jagdgewehr hereinkommt und das Feuer eröffnet. Im Kino oder Theater stelle ich mir vor, wie eine entsicherte Handgranate unter den Sitzreihen entlangrollt. An einem Feiertag sehe ich auf dem öffentlichen Platz ein Auto voller Sprengstoff explodieren, den festlichen Nachmittag zum Massaker entarten, das Blut zwischen den Pflastersteinen rinnen, Fleischklumpen an den Hauswänden kleben
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