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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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dir was mitbringen?«
    »Sieh ihn an, Merritt«, bat Hal inständig. »Sieh ihn einfach mal an. Er ist es. Es ist Jack.«
    Merritt brüllte und sprang mit solcher Wucht auf, dass er seinen Stuhl umwarf und die goldbraune Flüssigkeit aus seinem Glas auf den Tisch schwappte.
    »Verdammt noch mal, Junge! Jack ist tot! Verstehst du das nicht? Versteht ihr das alle nicht? Er hat ihn erwischt. Mit allen anderen ist er verschlungen worden!«
    Die Leute in der Bar sahen sich neugierig zu ihnen um, aber nur kurz. Keiner schien sich an Gewaltausbrüchen zu stören, solange es nicht einen selbst betraf.
    Jack stand auf und griff nach ihm, doch Merritt hob zitternd die Hand vors Gesicht und lachte leise. Als er dieses Lachen hörte, musste Jack die Zähne zusammenbeißen. Er fürchtete allmählich, er hätte sich doch geirrt – und Merritt wäre wirklichwahnsinnig, nicht nur verstört und verzweifelt. Dann hob Merritt seinen Stuhl auf und setzte sich mit einem schrecklich traurigen Gesicht wieder hin. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
    »Tut mir leid, Hal«, entschuldigte er sich. »Ich weiß, du wirst nicht gerne ›Junge‹ genannt.«
    »Macht nichts«, erwiderte Hal.
    Merritt klopfte mit den Knöcheln der rechten Faust an seine Schläfe. »Doch, macht es. Hier oben sind nur noch Scherben. Und ich spreche nicht gern über … ihn. Ich hab ihn im Stich gelassen, Hal. Diese Dreckskerle William und Archie haben Jim erschossen und ich hab Jack die Schuld gegeben, obwohl er ihnen nur die Stirn geboten hat. Er wollte mein Freund sein, auf mich aufpassen, selbst als wir gefangen waren, aber ich hab ihm die kalte Schulter gezeigt. Es ist meine Schuld, dass sie ihn am Pflock festgebunden hatten wie einen Hund, als das Ding …«
    Er verstummte, schloss den Mund und presste die Lippen zusammen. Eine einzelne Träne lief Merritt die Wange hinab, als er zu seinem Glas griff. Er streichelte das Glas zärtlich mit dem Daumen, hob es aber nicht zum Trinken hoch. Stattdessen starrte er mit diesem unbestimmten Blick in die Ferne, vielleicht in eine Vergangenheit, in der er sich selber die Schuld gab für das Grauen, das ihn befallen hatte.
    Hal seufzte und wollte aufstehen.
    »Nein«, sagte Jack.
    »Jack …«
    »Ich reise morgen früh ab«, verkündete Jack und blickte den kräftigen Mann eindringlich an. »Hörst du, Merritt? Ich fahre nach Hause. Du könntest mitkommen. Sieh mich an,verdammt noch mal! Ich bin nicht tot! Du hast mich nicht umgebracht. Und du warst zu recht sauer auf mich. Ich wusste auf den ersten Blick, dass mit den Typen nicht zu spaßen ist. Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Aber jetzt bin ich wieder da. Wir sind beide noch am Leben.«
    Merritt blinzelte nicht einmal. Es war, als ob der Bewohner seines Inneren, wer auch immer das jetzt sein mochte, ausgegangen wäre und das Licht ausgeknipst hätte.
    In Jack wallten die Gefühle auf. Er war zwar geschunden und geschlagen worden, aber ansonsten war er heil aus dem Grauen und Gemetzel jener Nacht davongekommen. Er würde Merritt nicht so zurücklassen. Er stand auf, stellte sich direkt vor Merritt, beugte sich vor, um seinen Blick einzufangen, doch der große Mann weigerte sich, ihn anzuschauen.
    Zorn und Reue trieben Jack an. Er packte Merritts Kopf mit beiden Händen und zwang ihn, in seine Richtung zu sehen. Merritt versuchte zurückzuweichen, doch er stieß mit der Stuhllehne an die Wand, während Jack ihn immer noch festhielt.
    »Lass mich …«
    »Sieh mich an, verdammt noch mal!«, keuchte Jack. »Ich bin dein Freund, Merritt. Ich bin Jack London und ich bin nicht tot. Der Wendigo hat beinahe alle anderen erwischt, aber mich nicht. Ich stehe hier vor dir, hier bin ich!«
    Merritt versuchte, den Kopf wegzureißen, doch Jack hielt ihn weiter umklammert, stieß gegen den Tisch und verschüttete noch mehr Whisky. Er beugte sich ganz weit vor, seine Nase berührte beinahe die von Merritt.
    »Sieh mich an!«
    Und endlich gab Merritt nach. Er kniff die Augen zusammen,runzelte die Augenbrauen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
    »Du siehst ihm wirklich ähnlich«, flüsterte er dann, »das muss ich zugeben. Aber wenn ich irgendwas gelernt hab, dann, dass der Schein trügt.«
    Jack ließ ihn los. Er dachte schon fast, es sei unmöglich, zu ihm durchzudringen. Vielleicht war etwas in ihm kaputt gegangen, das sich nicht wieder reparieren ließ.
    Merritt wollte zum Glas greifen, doch Jack war schneller und nahm es ihm weg.
    »Du hast mir mal gesagt,
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