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Die Wiedergeburt

Die Wiedergeburt

Titel: Die Wiedergeburt
Autoren: Brigitte Melzer
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Sonnenaufgang würde sie Edinburgh den Rücken kehren.
    Als sie Canongate wieder verließ und in die erdrückende Enge der Gassen Edinburghs zurückkehrte, war es beinahe Abend. Froh darüber, dass ihre Untätigkeit endlich ein Ende fand, folgte sie der steil ansteigenden Royal Mile hinauf in Richtung Castle Hill.
    Sie war erleichtert, Edinburgh endlich hinter sich lassen zu können, denn abgesehen von der Royal Mile und ein paar angrenzenden Straßen war die Stadt kein angenehmer Ort. Erdrückende Häuserschluchten wuchsen überall aus dem Boden und lehnten sich gegen die Hänge, an denen sie erbaut worden waren. Die Gassen waren eng, die Straßen – zumindest während des Tages – überfüllt, und über all dem hing ein ekelerregender Gestank, abgestanden und faulig, den selbst der stärkste Wind nicht zu vertreiben vermochte.
    Heute lagen viele der Häuser hinter bleichen Nebelschwaden verborgen, die durch die Gassen zogen und mit kühlen Fingern über Alexandra hinwegstrichen. Als es zu regnen begann, schlug sie ihren Mantelkragen hoch und zog den Kopf ein. Mit großen Schritten eilte sie weiter, vorbei an den Durchgängen, die unter den Häusern in die engen Closes und Wynds führten.
    Der Netherbow lag noch nicht lange hinter ihr, als sie sich einmal mehr beobachtet fühlte. Ohne den Kopf zu drehen, ließ Alexandra ihren Blick über die Umgebung wandern, auf der Suche nach jemandem, der nicht hierher gehörte. Unzählige Menschen waren auf der Royal Mile unterwegs, verwandelten die Straße in ein Gewirr aus Stimmen, Gerüchen und Geräuschen. Männer zogen Karren hinter sich her, beladen mit Feuerholz und Vorräten, Frauen schleppten Körbe voller Gemüse. Immer wieder rumpelten Fuhrwerke über das unebene Pflaster, bahnten sich rücksichtslos ihren Weg zwischen den Leuten hindurch. Von irgendwoher durchdrang eine Stimme den Dunst: »Heißer Eintopf – vertreibt die Kälte und füllt den Magen!« Anderswo pries jemand lautstark Tongeschirr an. Die meisten Stände entlang der Straße waren jedoch bereits geschlossen. Kräftige Männer und Frauen wuchteten die nicht verkauften Waren auf ihre Karren und machten sich damit auf den Heimweg. Morgen Früh würden sie zurückkehren, um sie erneut feilzubieten. Jetzt jedoch wollte ein jeder von ihnen nach Hause, ehe die Dunkelheit über der Stadt Einzug hielt.
    Der Nebel machte es schwer, viel zu erkennen, doch wer immer Alexandra beobachtete, musste nah genug an ihr dran sein. Sie hielt vor einem Stand inne, der Fisch anbot. Auch hier wurde bereits zusammengeräumt, trotzdem ließ sie ihre Augen über die wenigen verbliebenen Waren wandern, während sie ihre Sinne auf die Umgebung richtete. Sie war von unzähligen Menschen umgeben. Manche sahen sie an, andere gingen an ihr vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb.
    »Wollen Sie Schellfisch?«, fragte eine alte Frau und hielt ihr mit zahnlosem Grinsen ein schleimig aussehendes Exemplar entgegen. Ein Geruch, der alles andere als frisch zu nennen war, stieg Alexandra in die Nase und ließ sie zurückweichen.
    »Danke«, sagte sie hastig und machte kehrt, um der Zahnlosen zu entgehen. Ohne noch einmal stehen zu bleiben, passierte sie die letzten Buden. Kaum lag der Markt ein Stück hinter ihr, war die Straße nahezu verlassen – und noch immer glaubte sie Blicke in ihrem Nacken zu spüren. Das Gefühl war ein anderes als während der letzten Tage, es fehlten die Wärme und das Prickeln. Doch sie zweifelte nicht daran, dass ihr jemand folgte.
    Ohne sich umzusehen, beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie den kronenförmigen Turm von St. Giles sah, der wie ein gewaltiges Schattengespinst aus dem Nebel ragte, wanderte ihr Blick nach rechts. Ihre Augen streiften über die schmutziggrauen Fassaden, bis sie fand, wonach sie suchte: den Zugang zum Mary King’s Close. Wie ein aufgerissener Schlund starrte ihr der Durchgang entgegen, bereit, jeden zu verschlingen, der sich in seinen Rachen wagte.
    Ohne innezuhalten, bog Alexandra in die Passage ein. Ein widerwärtiger Gestank, eine Mischung aus menschlichen Ausdünstungen und Tod, nahm ihr den Atem. Nach zwei Schritten schwand das trübe Licht und wich einer zähen Dunkelheit, die mit jedem Herzschlag undurchdringlicher wurde. Alexandra streckte die Hand nach der Wand aus und tastete sich am feuchten Mauerwerk entlang. Jeder ihrer knirschenden Schritte wurde von den Wänden aufgefangen und in zahllosen Echos zurückgeworfen. Immer
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