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Die Wespenfabrik

Die Wespenfabrik

Titel: Die Wespenfabrik
Autoren: Ian Banks
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hier in der Küche
schweigt der Stock; die Fliesen lassen ihn verstummen.
    Dieser Stock ist der Garant für die Sicherheit der Fabrik.
Dem Bein meines Vaters, fest eingerastet, verdanke ich meinen
Zufluchtsort dort oben in der Wärme des weitläufigen
Dachbodens, im Giebel des Hauses, wo Gerumpel und Unrat verstaut
sind, wo der Staub schwebt und das Sonnenlicht schräg
hereinfällt und wo die Fabrik ihren Sitz hat – schweigend,
lebendig und still.
    Mein Vater kann die schmale Leiter, die vom oberen Stockwerk
hinaufführt, nicht erklimmen; und selbst wenn er es könnte,
wäre er nicht fähig, die Drehung zu vollführen, um von
der obersten Sprosse der Leiter um das Mauerwerk des Kaminschachtes
herum in den eigentlichen Dachboden zu gelangen, das weiß
ich.
    Ich habe diesen Ort also ganz für mich.
    Ich schätze, mein Vater ist jetzt ungefähr
fünfundvierzig, obwohl ich manchmal denke, daß er viel
älter aussieht, und er mir bei manchen Gelegenheiten ein wenig
jünger erscheint. Er verrät mir sein wahres Alter nicht,
also bleibe ich bei meiner Schätzung von fünfundvierzig,
seinem Äußeren nach zu urteilen.
    »Wie hoch ist dieser Tisch?« fragte er unvermittelt, als
ich gerade im Begriff war, zum Brotkasten zu gehen und mir eine
Scheibe zu holen, um meinen Teller damit auszuwischen. Ich drehte
mich zu ihm um und fragte mich, warum er sich mit einer so leichten
Frage abgab.
    »Dreißig Inches«, antwortete ich und nahm einen
Brotkanten aus dem Kasten.
    »Falsch«, sagte er mit einem hämischen Grinsen.
»Zwei Fuß sechs.«
    Ich sah ihn kopfschüttelnd an und runzelte die Stirn, dann
schabte ich den braunen Rand von Suppe aus meinem Teller. Es gab eine
Zeit, da hatte ich wahrhaftig Angst vor derart idiotischen Fragen,
aber jetzt, abgesehen davon, daß ich Höhe, Länge,
Breite, Grundfläche und Volumen von jedem Teil des Hauses und
jedem Gegenstand darin hätte wissen müssen, nehme ich diese
Marotte meines Vaters als das hin, was sie ist. Manchmal wird es
etwas peinlich, wenn wir Gäste haben, selbst wenn es sich um
Familienangehörige handelt, die eigentlich wissen
müßten, was sie zu erwarten haben. Sie pflegen dann
dazusitzen, meistens im Wohnzimmer, und sich zu fragen, ob Vater
ihnen wohl etwas zu essen anbieten oder ihnen lediglich einen
improvisierten Vortrag über Dickdarmkrebs oder Bandwürmer
halten wird, bis er sich neben einen von ihnen stellt, sich umsieht,
um sich zu vergewissern, daß auch aller Aufmerksamkeit auf ihn
gerichtet ist, und dann in einem verschwörerischen
Bühnenflüstern sagt: »Siehst du die Tür dort? Sie
ist fünfundachtzig Inches breit, von Ecke zu Ecke.« Dann
blinzelt er und läßt sich mit gelassenem Gesicht wieder
auf seinen Stuhl sinken.
    Seit ich mich erinnern kann, gibt es überall im Haus
weiße Papieraufkleber, die zierlich mit schwarzem Filzstift
beschriftet sind. Sie kleben an Stuhlbeinen, an Teppichrändern,
unter Bechern, an Radioantennen, Schubladenfronten, Bettgestellen,
Fernsehbildschirmen sowie an den Griffen von Töpfen und Pfannen
und geben die genauen Maße des betreffenden Gegenstandes an. Es
sind sogar welche, mit Bleistift beschriftet, an den Topfpflanzen
angebracht. Als ich Kind war, bin ich einmal durchs ganze Haus
gelaufen und habe alle Aufkleber abgerissen; ich bekam eine Tracht
Prügel und zwei Tage Arrest in meinem Zimmer. Später
beschloß mein Vater, daß es nützlich für mich
und der Entwicklung meines Charakters zuträglich wäre, wenn
ich all die Maße ebenso auswendig wüßte wie er, und
ich mußte stundenlang vor dem Buch der Maße (einer
gewaltigen Loseblattsammlung mit allen Informationen von den kleinen
Aufklebern, sorgfältig registriert und unterteilt nach Raum und
Kategorie) sitzen oder mit einem Notizbuch durchs Haus wandern und
meine eigenen Aufzeichnungen machen. All das war eine Ergänzung
zu den üblichen Lektionen, die mir mein Vater in Mathematik und
Geschichte und so weiter erteilte. Das ließ mir nicht viel
Zeit, um hinauszugehen und zu spielen, und ich war darüber sehr
betrübt. Ich führte zu jener Zeit gerade einen Krieg –
Muscheln gegen Tote Fliegen, glaube ich –, und während ich
in der Bibliothek saß und mich mit den Büchern langweilte
und versuchte, die Augen offenzuhalten, blies der Wind meine
Fliegenarmee über die halbe Insel, und das Meer
überschwemmte zunächst meine Muscheln mit der Flut und
bedeckte sie dann mit Sand. Glücklicherweise wurde mein Vater
diese großangelegte Ausbildung leid und begnügte
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