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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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miterlebt hat. Am Rande sei erwähnt, daß in den Spielkasinos der ehemals portugiesischen Kolonie Macao, die weiterhin über einen Sonderstatus verfügt, höhere Summen eingesetzt und verzockt werden als im legendären Las Vegas.
    Wie konnte eine solche gesellschaftliche Umkrempelung kolossalen Ausmaßes bewältigt werden? Von der reinen Lehre Mao Zedongs kann heute nicht mehr die Rede sein, wenn sich im Schatten hochragender Wolkenkratzer teuerste Luxuslimousinen die Vorfahrt streitig machen und allzu viele »Söhne des Himmels« auf ihren Karaokebühnen den amerikanischen Song anzustimmen scheinen: »Money, money, money, it’s a rich man’s world«.
    Ein solches Staatswesen bedarf einer richtungweisenden Ideologie, zumal wenn der rasante soziologische Umbruch seine phänomenalen Errungenschaften erhalten und weiter ausbauen will. Diese uralte Kulturnation wird sich niemals aus gewissen ererbten Strukturen lösen können, die im Laufe der Jahrtausende zwar vorübergehend erschüttert, sich dann aber immer wieder bestätigt haben. Die Macht des Kaisers, des »Drachensohnes«, war stets gebunden an den »Auftrag des Himmels«, an einen Zustand der friedlichen Ordnung, an eine mythische Vorstellung von Harmonie und an das Wohlergehen des Volkes. Mir kommt da der Sommer 1976 in den Sinn, als ich nach dreitägiger Eisenbahnfahrt, von Hanoi kommend, in Peking eintraf. Es herrschte damals in der chinesischen Hauptstadt die düstere Atmosphäre eines »fin de règne«. Bedrohliche Naturereignisse kündigten das Ende des »Mandats« an, das Mao Zedong bis zu seiner tödlichen Ermattung für sich beansprucht hatte. Schwere Erdbeben hatten die Hauptstadt und diverse Industriereviere des Nordens heimgesucht. Die Schächte der Gruben brachen zusammen, und schwarzes Wasser quoll aus den Tiefen hervor. Die legendären Drachen, die – den Geomantikern und dem Volksglauben zufolge – in der Tiefe schlummern und normalerweise Stabilität und Glück garantieren, schienen ihren Groll über den rechtlosen Zustand, der sich am Sterbebett des großen Tyrannen und unter dem Einfluß der ruchlosen »Viererbande« eingestellt hatte, durch zerstörerische Regungen kundzutun.
    Wie steht es heute um die Harmonie zwischen Himmel und Erde, während die höchsten Mandarine der Kommunistischen Partei, die sich zur Beratung im Gästehaus der ehemaligen Mao-Gattin Jiang Qing zurückziehen, mit einer Situation konfrontiert sind, die voller Verheißungen, aber auch voller Widersprüche steckt? Allzu häufig ist behauptet worden, daß der Sitten- und Ritenkodex, daß die Weisheitssprüche des Meisters Kong, der ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung den chaotischen Kriegswirren seiner Epoche durch Vernunft und Gesittung Einhalt gebieten wollte, sich nach dem Tod Mao Zedongs in ihrer strikten Hierarchie von Staat und Familie wieder durchsetzen würden. Der »Große Steuermann« hatte die Lehrer des Konfuzius, die er für die Lähmung und Wehrlosigkeit des chinesischen Reiches seit dem Opiumkrieg verantwortlich machte, zu Tausenden umbringen lassen. Er folgte wiederum dem Vorbild des Reichsgründers Qin Shi Huangdi, der sich auf die Zwangsmethoden seiner »Legalisten« stützte und die konfuzianischen Magister zu Tausenden bei lebendigem Leibe begraben ließ.
    Ich habe selber noch erlebt, wie entfesselte Rotgardisten mit dem Kampfschrei »Pi Lin, Pi Kong« an der Geburtsstätte des Mannes, den die Chinesen Kong Zi nennen, ihre Wut gegen dessen zutiefst konservative Thesen ausdrückten. Mit der Schmähung des Namens »Lin« wiederum war jener Oberbefehlshaber der Volksbefreiungsarmee und designierte Nachfolger Maos, Marschall Lin Biao, gemeint, der nach einem Putschversuch auf der Flucht in die Sowjetunion über der Mongolei mit seinem Flugzeug abgestürzt war. Die absurde Assoziation des Marschall Lin Biao, eines fanatischen und verräterischen Kommunisten, mit Konfuzius offenbarte das ganze Ausmaß dieses revolutionären Wahns.
    Wenn dennoch die kommunistischen Machthaber unserer Tage zumindest verbal auf die konfuzianische Tradition zurückgreifen und weltweit zur Pflege chinesischer Kultur sogenannte »Konfuzius-Häuser« eröffnen, so dürften sie sich der Grenzen einer solchen Rückbesinnung bewußt sein. Erwähnen wir nur zwei Beispiele der
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