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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Unvereinbarkeit mit dem heutigen Zustand der Volksrepublik. Konfuzius hatte dem Soldaten die niedrigste Stufe seiner Gesellschaftsstruktur zugewiesen, während in unseren Tagen die Volksbefreiungsarmee – aufs engste mit der Partei verwoben – als unentbehrlicher Faktor der nationalen Einheit gefeiert wird. Die Frau ihrerseits war von Meister Kong zur totalen Unterwerfung unter den »pater familias« verurteilt, während die von Mao und seiner Frau ­Jiang Qing betriebene Emanzipation ein beacht­liches ­weib­liches Selbstbewußtsein gefördert hat. Zudem hat die »Einkindpolitik«, die heute noch gilt, dazu geführt, daß die befohlenen Abtreibungen überwiegend an weiblichen Föten vorgenommen wurden, denn der Ahnenkult erfordert, daß die Bestattungsriten von einem Sohn zelebriert werden. Was sollen die Mandarine von heute zudem mit jener rückwärtsgerichteten Utopie anfangen, der zufolge die perfekte Eintracht zwischen Himmel und Erde nur wiederhergestellt werden könne, wenn man zu den Tugenden des »Goldenen Zeit­alters« zurückfände, die sich angeblich unter den mythischen Dynastien Shang und Zhou in grauer Vorzeit entfaltet hatten?
    Die maoistischen Epochen des Terrors sind bestimmt nicht dem Vergessen anheim gefallen. Dem »Großen Steuermann«, dessen Leichnam mit rosa gefärbten Bäckchen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in einem ziemlich geschmacklosen Mausoleum aufgebahrt liegt, wird dennoch eine unerklärliche Verehrung zuteil. Laut Meinungsumfragen sollen sechzig bis siebzig Prozent aller Chinesen diese erdrückende Figur überwiegend positiv bewerten. »Ohne große Männer und Vorbilder gibt es keine Tugend und keinen Wohlstand beim Volk«, hatte sogar der von ihm gehaßte Kong Zi gelehrt. So scheint es niemand zu verwundern oder zu schockieren, daß das Porträt Maos weiterhin den Eingang der Verbotenen Stadt beherrscht und die neu gedruckten Geldscheine ziert, daß überall seine Abbildung in Bronze oder Porzellan ausgestellt ist, daß das berüchtigte rote Büchlein in vielfachen Übersetzungen zum Verkauf aussteht. So viel Sinn für Ironie ist offenbar vorhanden, daß ich lange nach der Kulturrevolution eine Vase erwerben konnte, auf der Mao Zedong und der »teuflische« Putschist Lin Biao sich brüderlich zuprosten.
    Es wäre müßig, über die mentalen Wandlungen zu meditieren, die sich möglicherweise beim breiten Volk vollziehen, in dem die Überlieferungen des Taoismus und des Buddhismus lebendig geblieben sind. Bemerkenswert ist die Härte, mit der die Parteifunktionäre gegen die Falun-Gong-Sekte vorgehen, deren Gründer in USA lebt und deren bizarre Vorstellungen auf Außenstehende wie Scharlatanerie wirken. Aber das Riesenreich und seine sonst so pragmatischen Einwohner, denen jede Form von Metaphysik fremd bleibt, ist in der Vergangenheit von völlig irrationalen Umsturzbewegungen in seinen Grundfesten erschüttert worden. Noch im 19. Jahrhundert konnte die Taiping-Revolte, deren bäuerlicher Anführer als angeblicher Bruder Jesu Christi im Begriff stand, die Qing-Dynastie zu stürzen, nur mit Unterstützung westlicher »Barbaren« in einem Blutbad ertränkt werden.
    Mit zunehmendem Lebensniveau und dem Entstehen einer breiten Mittelschicht dürfte das Aufkommen politischer Mäßigung, der Verzicht auf alltägliche Exzesse wohl auf Dauer nicht verhindert werden, aber die Hinwendung zu europäischen oder amerikanischen Formen parlamentarischer »Streitkultur« ist kaum vorstellbar. Von Churchill stammt das Wort, daß die parlamentarische Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen sei – mit Ausnahme aller anderen. Aber die Zeit ist ja nicht so entfernt, als der Zugang zum Rang eines Abgeordneten auch im Abendland nur einer privilegierten Elite offenstand. In Frankreich hatte das zensitäre System den Aufstieg zum »député« auf die Zugehörigkeit besitzender Klassen beschränkt. »Enrichissez-vous – Bereichert euch doch«, hatte der Regierungschef Guizot den Besitzlosen zu­gerufen, die auf gleichberechtigte Vertretung im Palais Bourbon drängten. In Preußen hat bis zum Ersten Weltkrieg das Dreiklassenwahlrecht gegolten, und in England wird die gesellschaftliche Schichtung der Untertanen ihrer »gracious Majesty« bereits an der sprachlichen
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