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Die Welle

Titel: Die Welle
Autoren: Morton Rhue
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Entscheidungen traf? Die Gesichter, die zu ihm aufblickten, drückten jedenfalls genau das aus. Und das war die fürchterliche Verantwortung jedes Führers: zu wissen, dass diese Gruppe ihm folgen würde.
    Ben begann zu begreifen, wie viel ernsthafter dieses kleine »Experiment« war, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Es war Furcht erregend, wie leicht man den Glauben dieser jungen Menschen manipulieren konnte, wie leicht sie es zuließen, dass man ihnen Entscheidungen abnahm. Wenn die Menschen aber dazu bestimmt waren, dass man sie führte, so dachte Ben, dann musste er dafür sorgen, dass sie eines wirklich lernten: Gründlich zu fragen, nie jemandem blind zu vertrauen, sonst ... Plötzlich sprang im Publikum ein enttäuschtes Mitglied von seinem Platz auf und rief Mr Ross zu: »Da ist ja gar kein Führer!« Schockierte Schüler überall im Saal wandten ihm die Köpfe zu, während zwei Wächter herbeieilten, um den Ruhestörer aus dem Saal zu befördern. In der darauf folgenden Verwirrung gelang es Laurie und David, durch die Tür zu schlüpfen.
    Ehe die Schüler noch Zeit hatten, über das Geschehene nachzudenken, trat Ben wieder zur Mitte der Bühne.
    »Doch, ihr habt einen Führer!«, rief er. Auf dieses Stichwort hatte Carl Block hinter der Bühne gewartet. Jetzt öffnete er den Vorhang und gab dadurch eine große Filmleinwand frei. Im selben Augenblick schaltete Alex Cooper im Vorführraum den Projektor ein. »Dort!«, rief Ben. »Dort ist euer Führer!«
    Ein riesiges Bild von Adolf Hitler füllte die Leinwand aus. »Das ist aus dem Film, den er uns damals gezeigt hat.« »Und jetzt hört genau zu!«, rief Ben. »Es gibt keine nationale Bewegung der Welle, es gibt keinen Führer. Aber gäbe es ihn, dann wäre er es! Seht ihr denn nicht, was aus euch geworden ist? Seht ihr nicht, in welche Richtung ihr treibt? Wie weit wärt ihr gegangen? Seht euch einmal eure Zukunft an.«
    Die Kamera schwenkte vom Gesicht Hitlers auf die Gesichter der jungen Nationalsozialisten, die während des Zweiten Weltkriegs für ihn gekämpft hatten. Viele von ihnen waren noch Jugendliche, manche sogar jünger als einige der Schüler im Saal.
    »Ihr habt euch für etwas Besonderes gehalten!«, erklärte ihnen Ross. »Ihr kamt euch besser vor als alle anderen außerhalb dieser Aula. Ihr habt eure Freiheit gegen das verschachert, was man euch als Gleichheit vorgesetzt hat. Aber ihr habt die Gleichheit in Vorherrschaft über die Nicht-Mitglieder verwandelt. Ihr habt den Willen der Gruppe über eure eigenen Überzeugungen gestellt, auch wenn ihr dadurch andere verletzen musstet. Natürlich haben manche von euch geglaubt, sie könnten ja jederzeit wieder aussteigen. Aber hat es denn jemand wirklich versucht?
    Ja, ja, ihr wärt alle gute Nazis gewesen«, erklärte Ben. »Ihr hättet die Uniform angezogen, hättet euch den Kopf verdrehen lassen, und ihr hättet zugelassen, dass man eure Freunde und Nachbarn verfolgt und vernichtet. Ihr habt gesagt, so etwas könne nie wieder geschehen. Aber denkt doch einmal darüber nach, wie nahe ihr selbst schon diesem Zustand gekommen seid. Ihr habt diejenigen bedroht, die nicht zu euch gehören wollten. Ihr habt Nicht-Mitglieder daran gehindert, beim Football neben euch zu sitzen. Faschismus, das ist nicht etwas, das nur andere Menschen betrifft. Faschismus ist hier mitten unter uns und in jedem von uns. Ihr habt gefragt, warum das deutsche Volk nichts getan habe, als Millionen unschuldiger Menschen ermordet wurden. Wie hätten sie behaupten können, wolltet ihr wissen, sie hätten von alledem nichts gewusst? Ihr wolltet wissen, was ein Volk dazu bringen kann, seine eigene Geschichte zu verleugnen.«
    Ben trat näher zur Rampe und sprach jetzt leiser. »Wenn die Geschichte sich wiederholt, dann werdet ihr alle bestreiten wollen, was sich durch die Welle in euch abgespielt hat. Aber wenn unser Experiment erfolgreich war, und das hoffe ich, dann werdet ihr gelernt haben, dass wir alle für unsere eigenen Taten verantwortlich sind und dass ihr immer fragen müsst, was besser ist, als einem Führer blind zu folgen. Für den Rest eures Lebens werdet ihr niemals mehr zulassen, dass der Wille einer Gruppe die Oberhand über eure Rechte als Einzelmenschen gewinnt.«
    Ben schwieg einen Augenblick. Bis jetzt hatte er so geredet, als wäre alles nur die Schuld der Schüler. Aber es war mehr.
    »Und jetzt hört mir bitte zu«, sagte er. »Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich weiß, dass es schmerzlich
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