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Die Welfenkaiserin

Titel: Die Welfenkaiserin
Autoren: Martina Kempff
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wüsste niemanden, der mir willkommener wäre«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Sag mir alles, was du über meine Judith weißt.«
    Die Astronoma nahm die alte weißhaarige Frau behutsam am Arm und führte sie zu einer grob gezimmerten Bank vor dem windschiefen Haus am Ufer der Prüm.
    Als beide saßen, zog sie aus ihrem Beutel eine herzförmige silberne Scheibe mit seltsamen Reliefs und einem Loch in der Mitte.
    »Was ist das?«, fragte Gerswind, nachdem sie den Gegenstand in die Hand genommen und von allen Seiten betrachtet hatte.
    »Schließ die Augen«, sagte die Astronoma, »kehr zurück zum Februar des Jahres 814, und erzähl mir alles, was damals geschehen …«
    »Nein!«, schrie Gerswind und ließ erschrocken den silbernen Gegenstand fallen. »Der Planetentisch! Als ich Ludwig verflucht habe …«
    Sie brach ab.
    »Ahnte ich es doch, dass ich hier viele Antworten finden würde«, sagte die Astronoma leise. »Willst du mir alles erzählen?«
    Gerswind schüttelte den Kopf. Noch nie hatte sie jemandem alles erzählt. Das wäre für den, der es sich anhörte, viel zu schmerzlich gewesen.
    »Magst du mir sagen, wer du bist?«, fragte sie.
    »Man nennt mich die Astronoma«, antwortete die Frau. »Einst trug ich einen Namen, doch würde ich unter diesem in Erscheinung treten, wäre ich des Todes.«
    »In einer solchen Lage war ich einst ebenfalls.«
    »Ich weiß. Ruadbern hat mir kurz vor seinem Tod deine Geschichte erzählt – soweit er sie kennt.«
    »Ruadbern ist auch tot?«, fragte Gerswind bestürzt.
    »Einem Gelehrten windet man keine Kränze«, sagte die Astronoma bedauernd, »und von seinem Tod nimmt die Welt selten Kenntnis. Aber seine Niederschriften werden meine Chroniken vervollständigen. Vielleicht helfen sie späteren Generationen, die Fehler der unseren zu vermeiden. Das ist alles, was wir der Nachwelt hinterlassen können.«
    »Du hast keine Kinder?«, fragte Gerswind.
    »Als Nonne sollte man tunlichst keine haben«, erwiderte die Astronoma heiter. »Deine Tochter hat, wie ich höre, ebenfalls den Schleier genommen.«
    »Es war ihr Wunsch, nicht meiner. Aber du trägst keine Nonnentracht?«
    Wehmütig blickte die Astronoma in den blühenden Garten, atmete tief den frischwürzigen Duft ein, der vom nahen Kräuterbeet herüberwehte, und wandte sich dann der weißhaarigen Frau neben sich wieder zu, die trotz ihrer Gebrechlichkeit eine seltsam heilende Kraft auszuströmen schien. Hier würde ich gern länger verweilen, dachte sie sehnsuchtsvoll und antwortete leise: »Ich gehöre keinem Kloster mehr an. Seit über zehn Jahren reise ich als Astronoma durch das Reich, lese in Sternen und Menschen das, was war, und sage keinem mehr, was wird. Denn damit habe ich einst große Schuld auf mich geladen.«
    »Und die hängt mit meiner Judith zusammen?«
    »Ja.«
    Die Astronoma bückte sich, hob die Silberscheibe auf und schwieg eine lange Weile. Gerswind sagte nichts. Sie verstand sich auf Schuld und wusste, wie schwer sie in Worte zu fassen war. Plötzlich griff die Astronoma nach Gerswinds Hand und drückte sie leicht.
    »Ich werde dir sagen, wer ich bin«, flüsterte sie. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren ging die Pilgerin, der sich bislang stets andere Menschen anvertraut hatten, das Wagnis ein, über sich selbst zu sprechen. Dafür gab es keinen Grund, nur das plötzlich auftretende Bedürfnis, sich dieser alten Frau mit den vertrauenswürdigen hellen Augen zu öffnen. Und doch erzählte sie ihr vom Schicksal der Nonne Gerberga, als wäre es einer anderen Frau widerfahren.
    Da sie mit ihrem Namen auch die eigene Vergangenheit abgelegt habe, spüre sie nun der des Reiches nach, erläuterte sie, und zeichne auf, was sie in Erfahrung bringe. Gerswinds Einwand, sie schreibe doch über die Gegenwart, widerlegte sie mit der Erklärung, diese sei bereits Vergangenheit, wenn sie ihr zugetragen werde. Sie verfasse ihre Chronik jedoch im Präsens, um dem Leser die Nähe zu den Ereignissen zu verdeutlichen. »Die Zukunft entwickelt sich aus dem Gewesenen, also ist es ein Teil von ihr«, sagte sie. Es sei jetzt ihr Schicksal, sich mit dem bereits Geschehenen zu beschäftigen. Denn die Gabe der Vorschau, die ihr verliehen worden war, hatte sich als Fluch herausgestellt. Hätte sie der habichtsnasigen Tochter des Hugo von Tours nicht die Kaiserinnenwürde prophezeit, könnte Judith noch leben. Dann hätte sich Irmingard niemals an Ludwigs Brautschau beteiligt. Von einer Mitschuld an Judiths Tod
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