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Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen

Titel: Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Autoren: Pia Solèr
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Kindern und älteren Menschen. Die in meinem Alter fanden ihn langweilig. Er handelte von einer wahren, unglücklichen Liebesgeschichte nach Gion Deplazes.
    Bald darauf wurde die Ziegenalp neu aufgebaut, und Linus fragte mich, ob ich als Hirtin mit dabei wäre. Ein Traum wurde wahr. Oder ein Alptraum – denn im ersten Sommer wurden Ziegen saniert. Die alten hatten CAE , eine schlimme Seuche, und mussten alle geschlachtet werden. So gab es zwei Jahre Pause, bevor ich die Jungen übernehmen konnte. Als Geisshirtin hatte ich am Anfang also keine Ahnung und die Geissen auch nicht. Niemand kannte die Wege, wir mussten gemeinsam alles von Grund auf neu lernen. Am ersten Tag auf der Dorfweide kam mein Vater mit. Wir hatten nur 40 Geissen zu hüten, konnten aber nicht gemeinsam Mittag essen, sonst wären sie abgehauen. An diesem Tag frassen sie keinen Bissen. Aber langsam gewöhnten sich Ziegen und Hirtin aneinander. In kürzester Zeit hatte ich etliche Kilos abgenommen und Füsse voller Blattern. Am Morgen und am Abend kam ich mit den Ziegen durch das Dorf, und die Ziegen liefen zu ihren Bauern. Dann ging es auf die Alp. Die beiden Ställe und die Hütte wurden neu gebaut und waren noch nicht fertig, als ich mit den Ziegen ankam. Ich schlief in der Hängematte. Den ersten Sommer machte ich die Alp mit Linus als Senn und seiner Familie. Da sie Bauern sind, mussten sie neben dem Käsen und Melken auch Heuen. Ja, es war ein chaotischer Sommer, und oft habe ich gesagt: Nie mehr Cavrera! Und doch hat es mich gepackt. Ich habe viel Erfahrung gesammelt, und mit jedem Sommer wurde es dann leichter.
    Heute sind auf der Alp fast mehr Frauen als Männer. Früher wäre das nicht möglich gewesen. Und wenn es Frauen auf der Alp gab, mussten sie sich als Männer verkleiden. Heute kommen sogar auch viele Familien hinauf.
    November. Heute Morgen ist Treuia von einem Auto erfasst worden. Sie bekam einen rechten Schlag, und ich hoffe, sie hat gelernt, dass Autos stärker sind als sie. Der Fahrer hatte keine Chance zum Anhalten. Er blieb dann aber stehen und fragte, ob sie verletzt sei. »Nein, ich glaube nicht.«
    Ich mag den Morgen, die Zeit, in der es langsam hell wird, und auch den Abend, wenn der Tag in die Nacht hinübergeht. Es sind stimmungsvolle Momente. Gestern Abend ging mein Freund zum Fuchsen. Er musste nicht lange bleiben und schon kam er mit einer alten Füchsin zurück, die bereits einige Zähne verloren hatte. Er zieht den Füchsen dann das Fell ab und trocknet es. Es sind sehr schöne Felle, aber auf dem Markt zahlt man vielleicht fünf Franken pro Fell, wenn sie schön sind, sonst zwei Franken. Letztes Jahr brachten wir die Felle nach Thusis. Der Händler nahm sie schnell ins Visier, sortierte die schönen und sagte: »35 Franken für alle.« Es waren zwei Marder dabei. Mir tat das Herz weh. So viel Arbeit und so viele Stunden auf der Lauer und so wenig wertvoll.
    Meine Mutter ist in Cons aufgewachsen, und weil sie am längsten dort gelebt hat, hat sie das Haus geerbt. Als ihr Vater starb, zogen meine Eltern mit meinen beiden Geschwistern nach Vrin-dado. In diesem Weiler vor Vrin wurde ich geboren. Meine Eltern vermieteten das Haus in Cons, bis ich es übernahm, auch als Erbe. Ich wohnte damals noch bei den Eltern und sagte, »ja, ich nehme das Haus, aber dann wohne ich selber darin.« So kam es, dass ich dahin zog. Das alte Haus war nicht isoliert. Vor ein paar Jahren habe ich zusammen mit meinem Schwager die Küche gemacht und mit Schafwolle isoliert. Sie ist schön geworden. Der Ofenbauer, der den Steinspeck-Ofen vergrössert hat, meinte: »Die modernen Frauen wollen alles glatt, aber du wirst noch berühmt mit deiner Küche.« Jetzt wäre die Stube dran, die mit Glaswolle isoliert ist. Gar nicht angenehm, das zu entfernen. Ich schiebe es immer vor mir her. Es gibt viel Arbeit, und ich bin auch oft bei meinem Freund. Mag mein Häuschen trotzdem nicht aufgeben mit seinen Nischen und Geschichten, es passt zu mir. Schreinerarbeiten machen mir Spass. Auch im Gang haben wir isoliert und neu tabliert. Mein Schwager übernahm die Feinarbeit, und wenn er keine Zeit hatte, machte ich alleine weiter. Wenn er kam, um zu kontrollieren, was ich gemacht hatte, fuhr er mit dem Finger um die leicht schrägen Bretter. »Was ist das?« – »Das ist Kunst!« Er lachte.
    Letzthin fragte mich eine Freundin, wo ich mich zuhause fühle. Eine gute Frage. Ich glaube, dass mein Zuhause da ist, wo ich gerade bin. Auf der Alp, in Vanescha, in
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