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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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Stein sitzt. Ich spüle die Bauchhöhle im Meer aus und stecke den Fang in meine Tasche.
    Als ich aufstehe und mich dem Steiluferweg zuwende, springt mir etwas ins Auge. Ich sehe es hinter dem Grat verschwinden.Ein paar Sekunden lang denke ich erschrocken, ich hätte einen Kopf gesehen. Es dauert nicht lange. Mir wird klar, dass ich nicht genau weiß, was ich gesehen habe – ob ich überhaupt etwas gesehen habe. Ich kenne das schon, dass ich mir Sachen einbilde. Es geschieht immer öfter. Bestimmt war es vom Wind bewegtes Gras, eine Möwe, oder einfach das nachlassende Augenlicht eines Alternden. Ich mache mich auf den Weg zur Höhle.
    In der Nacht denke ich an das Wesen auf dem Grat zurück. Nachts ändert es sich. Immer. Aus dem Kopf wird ein Gesicht, ein Gesicht mit Löchern in der Haut, durch die man die Knochen sieht, und mit entblößten Zähnen.
    Ich kann nicht schlafen und warte aufs Morgengrauen. Der Morgen ist wieder einmal heller als sonst. Jeder Tag hat seinen Grauton. Er reicht von Weißgrau bis Grauschwarz. Seit zehn Jahren habe ich die Sonne nicht gesehen, aber hin und wieder schimmert eine flammenweiße Scheibe durch die Wolken. Heute ist so ein Tag. Ich schwimme, esse, ziehe meine Jacke an und gehe Brennmaterial holen.
    Jacke, Kleider zum Wechseln, ein Messer, ein Stück Seil, Regenzeug, Angelschnur und -haken, eine Plane als Segel, Wasserbehälter, Kekse, Bindfaden, ein zweites Paar Stiefel, ein Spaten, eine Axt, mein Schreibzeug, ein Kompass und eine alte Meereskarte. Das hatte ich mitnehmen dürfen. Damit bin ich auf die Insel gekommen, und ich habe noch alles, wenn auch zum Teil mehrfach geflickt.
    Den Stiel meiner Axt musste ich wenige Monate nach meiner Ankunft auswechseln. Er war mir beim Fällen eines Baums zerbrochen. Ohne zu splittern. Er krachte mittendurch. Meine Hand schrammte in der Schlagbewegung mit voller Wucht gegenden zerbrochenen Schaft. Das Holz schnitt mir die Fingerkuppen auf. Ich hielt sie ans Licht und konnte einen Moment lang die Knochen sehen, ehe das Blut kam. Dann strömte es, und ich sah zu, wie es auf die Erde tropfte. Ich konnte nichts dagegen tun. Nadel und Faden besaß ich nicht. Ich war überrascht, wie stark es blutete. Das Walddunkel hüllte mich ein, ich roch die feuchten Kiefernnadeln, das frische Holz, hörte meinen eigenen beschleunigten Atem, die Stille, spürte das warme Blut auf meiner Haut. Ich sah keine Möglichkeit, mich vor dem Verbluten zu bewahren, keine Möglichkeit, mein Leben zu retten. Aber ich hatte mir doch nur die Finger verletzt, und daran war noch nie jemand gestorben. Ich riss ein Stück Stoff von meinem Hemd ab und wickelte es mir um die Hand.
    Als es aufgehört hatte zu bluten, ging ich an den Strand und wusch die Wunde mit Meerwasser. Das brannte ein bisschen, aber nicht sehr. Lange blieb ich auf den Felsen sitzen und schaute aufs Meer hinaus. Meine Reaktion ging mir durch den Kopf. Ich hatte Angst gehabt, wenn auch nur kurz. Als ich auf der Insel angekommen war, hatte ich mich gleich an die Arbeit gemacht. Ich wusste ja, was zu tun war. Ich wusste, dass die Insel mich ernähren konnte, und an den Gedanken, ein Leben ohne andere Menschen zu führen, hatte ich mich schon einige Zeit gewöhnen können. Und gesellig war ich noch nie gewesen. Aber jetzt das. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Damals hörte ich auf, Selbstgespräche zu führen, und so wurde es ruhiger auf der Insel. Lange her, nach Inselzeit.
    Der selbst gemachte Axtstiel hat sich bestens bewährt. Er ist vielleicht nicht so glatt wie der erste, nicht so griffig, aber es ist meiner. Abgenutzt, wie er ist, liegt er gut in der Hand. Aber jedes Mal, wenn ich die Axt schwinge, denke ich an den Tag, an dem der erste Stiel entzweiging.
    Der Wald ist nicht mein liebster Ort auf der Insel. Jeder hat so etwas in der Gegend, in der er sich aufhält. Sosehr man sein Zuhause auch mag, immer gibt es einen dunklen Winkel, irgendetwas, das man lieber meiden möchte. Ich halte den Kopf gesenkt, atme schwer, die Axtschläge hallen von den Kiefern rundum wider. Ich komme mir fehl am Platz vor. Fühle mich umzingelt. Das splitternde Geräusch, mit dem der Stamm bricht, überrascht mich jedes Mal. Wenn der Baum fällt, sehe ich mich immer um, als würde ich beobachtet. Ich suche die Wipfel ab. Obwohl ich weiß, dass keiner da ist, der mich beobachten könnte. Wenn ich dort die Augen schließe, tauchen Schemen hinter meinen Lidern auf. Verlasse ich den Wald und trete hinaus ans Licht,
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