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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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das Geräusch des Regens, des Winds, die ferne Brandung, die Möwen. Andere Gedanken und Erinnerungen schiebe ich beiseite. Meistens gelingt mir das, aber hin und wieder sehe ich Gesichter, Menschen hinter meinen Augenlidern, ein ferner Möwenschrei wird zum Weinen eines Kindes, und ich bin hellwach, zutiefst erschrocken.
    Ich flicke meine Netze und rechne, ritze die Zeit in meine Höhlenwand. Nach Möglichkeit schlafe ich von kurz nach Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, und wenn ich wach bin, beschäftige ich mich. Ich kann nicht anders. Ich brauche die Insel nicht mehr so ausgiebig zu erkunden wie früher. Ich müsste es mit dem Torf und den Bäumen nicht so genau nehmen. Ich könnte mich vollfressen, das Feuer lodern lassen, alles durchwärmen, Wasser zum Waschen aufsetzen. Aber an bestimmten Regeln, die ich für mich aufgestellt habe, halte ich fest. Jeden Morgen schwimme ich im Meer, esse etwas – meist die Reste vom Abend zuvor –, dann hole ich Holz oder Torf. Am Nachmittag gehe ich fischen oder besorge sonst etwas zu essen. Es gibt ein paar essbare Blätter und Knollen im Wald, Grassamen, Pilze. Sie dienen mir neben Fischen, Krabben, Möwen und Würmern als Nahrung.
    Wenn ich am Strand entlanglaufe, halte ich mit gesenktem Kopf Ausschau nach Krabben und toten Fischen. Sehe ich eine neue Sorte Fisch oder Krustentier und es ist einigermaßen frisch, stecke ich es in meine Tasche, um es mir in der Höhle genauer anzusehen. Habe ich es dann untersucht und für unschädlich befunden, esse ich es. Abgesehen von drei Pilzarten, von denen mir schlecht geworden ist, hatte ich bis jetzt immer Glück. An einer bestimmten Stelle wird Kelp angespült. Auch davon schneide ich mir Stücke ab und nehme sie mit. Man kann Schalentiere in den Tang legen und sie am Feuer erhitzen. So werden sie gedünstet, und ihr Fleisch wird zart und schmeckt nach Meer. Das gehört zu meinen Leckerbissen auf der Insel.
    In Tang zu dünsten habe ich vor Jahren gelernt. Wir fuhren mit unseren kleinen Booten an der Küste einer Insel im Nordwesten entlang, als wir von einer bewaffneten Suche nach fruchtbarem Land zurückkamen. Das scheint alles zu sein, woraus unsere Welt besteht: ein paar von weiten Meeren getrennte Inseln. Einige sind Wüsten, andere versumpft, die meisten für Menschen unbewohnbar. Nur auf wenigen ist Leben möglich. Wir hatten nichts gefunden. Die meisten unserer Kämpfer waren tot, und der Feind saß uns im Nacken. Meine Männer hatten Hunger. Bisher war die Küste kahl gewesen, doch an jenem Abend landeten wir an einem Felsenufer, und ich schickte ein paar Leute vor. Sie kamen mit von den Felsen gelesenen Leckereien zurück und machten sich daran, sie in Kelp zu dünsten. Solche Nahrungsfunde waren ungewöhnlich, und es sollte dann auch auf Tage unsere letzte Mahlzeit sein. Dem Hunger erlagen ebenso viele von uns wie den Speeren, Pfeilen und Feuerwaffen des Feindes.
    Wenn ich Nahrung besorgt habe, kontrolliere ich meinen Trinkwasservorrat. Ich habe drei Wasserbehälter. Es gibt zwarkeine Bäche auf der Insel, aber Wasser ist leicht zu bekommen. Wo es ständig regnet, verdurstet man so schnell nicht. Ich habe einen Kreis aus Steinen errichtet und ein Tuch darübergebreitet, das in der Mitte durchhängt. Darunter steht ein Behälter. An den meisten Tagen läuft er über.
    Wenn ich genug zu essen und zu trinken habe, wende ich mich meinen Inselstudien zu. Ich klassifiziere die Flora und Fauna hier. Bis jetzt habe ich fünf Fischarten gefunden, zwei verschiedene Anemonen, Seetang, Napfschnecken, zweierlei Krabben, sieben Sorten Pilze, vier davon essbar, drei ungenießbar, dreierlei Grasarten, eine Baumart, acht andere Pflanzen, eine Möwen- und eine Wurmart.
    Viel Leben gibt es nicht auf der Insel. Keine Ratten, keine Karnickel, keine Maulwürfe. Die Möwen sind im Verschwinden begriffen, und andere Vögel gibt es nicht. Aber das ist normal, und die Insel ist klein. Abgelegen. Wahrscheinlich ist sie im Unterschied zu den meisten Inseln, die ich kenne und die wohl später entstanden sind, seit Jahrtausenden isoliert.
    Ich kenne jeden Meter dieser Insel, von den Steilufern über das Grasland bis zum Wald und dem Torfmoor, von der Schlick- und Felsenküste auf der anderen Seite über die Fischbucht bis zum wilderen Ostufer. In zehn Jahren kommt man weit herum. Ich habe jeden Stein, jede Pflanze berührt, hinter jeden Baum und in jeden Felsentümpel geschaut. Ich habe ihre Wurzeln, ihr Wasser, ihr Leben gekostet. Sie hält immer
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