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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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es ist bloß eine Geschichte.
    Während ich von Schemen umgeben hier stehe, denke ich mir, dass es so für sie gewesen sein muss. Das Halbdunkel, das Nichtatmenkönnen.
    Die Insel liegt am äußeren Rand der Territorien namens Bran. Irgendwo östlich davon liegt Axum, Brans einziger Rivale und das einzige andere Siedlungsgebiet, das die Welt kennt.
    Es gibt Gerüchte, Legenden von etwas anderem irgendwo. Es gibt Maßeinheiten für Raum und Zeit, die nicht von uns sind, es gibt Worte für Dinge, die niemand aus Erfahrung kennt, es gibt Dinge, die wir für wahr halten, aber nicht beweisen können. Ich schreibe, dass ich wie ein Mönch lebe. Die Welt kennt keine Mönche, doch ich kenne das Wort und weiß oder glaube zu wissen, dass es einen Menschen bezeichnet, der enthaltsam lebt. Wir haben Plastik, haben das Wort für Plastik, stellen aber keines her und wüssten auch nicht wie. Wir wissen, dass der Norden und der Süden unbewohnbar sind, wissen aber nicht mehr, wie es dazu gekommen ist. Die Geschichte von dem Rauch. Bruchstückhaftes Wissen, Fetzen kollektiver Erinnerung. Man erzählt sich von einer Zeit, in der wir viel zahlreicher waren, einerZeit der Fülle. Doch das war lange vor Beginn unsere Geschichte, viel länger, als ich zurückdenken kann. Meine Rolle in Bran brachte es mit sich, dass ich mehr gesehen habe als die meisten, dass ich Dinge gesehen habe, die nur wenige aus meinem Volk mir glauben würden. Ein halb im Wüstensand begrabenes, riesiges Schiff. Ruinen auf dem Grund eines Sees. All diese Hinweise auf unsere Vergangenheit erschließen sich uns nicht, weil wir Angst haben vor ihrer Bedeutung, Angst, was sie uns darüber sagen könnten, wer wir einmal waren. So vieles, was ich gesehen habe, legt nahe, dass unsere Vergangenheit bedeutender war als unser Jetzt. Doch für die Vergangenheit waren wir noch nie bereit. Die Gegenwart war immer Kampf genug.
    Auf dem Weg hierher, nach acht Tagen Segeln, wurde das Meer zu Glas. Ich blickte über den Rand des Floßes und konnte metertief schauen. Eine Ewigkeit sah ich nichts als Wasser. Dann erschienen dunkle Schemen. Ich fuhr über sie hin. Manche reichten hoch hinauf, und so erkannte ich Ruinen, Umrisse von Gebäuden, Zwischenräume. Ich trieb über eine Säule hinweg, die fast bis zur Wasseroberfläche hinaufragte. Auf der Säule befand sich die Statue eines Menschen. Ich steckte den Arm bis zur Schulter ins Wasser, um an ihn heranzukommen. Er trug einen Hut. Militärische Haltung, ausdruckslose Miene, ein Gesicht aus Stein. Ich streifte mit den Fingerspitzen seinen Kopf, und schon war er weg. Vom Meer verschluckt. Wie zuvor und für immer ungestört, unsichtbar. Ich segelte weiter.
    Man lässt mich hier in Ruhe. Niemand wagt sich weit nach Norden oder Süden vor. Bran liegt im Westen, Axum im Osten. Die Grenzen der beiden Siedlungsgebiete, die ebenfalls Inseln sind, nur viel größer als diese, werden nicht kontrolliert. Wir hatten nicht genug Leute und haben sie wahrscheinlich immer noch nicht, und als ich dort wegging, hatte es schon jahrelangkeine Übergriffe auf unser Gebiet mehr gegeben. Die beiden Lager ließen sich in Frieden. Wir ließen einander gewähren. Eine Zeit lang schauten Botschafter darauf, dass der im Friedensvertrag vereinbarte Große Plan eingehalten wurde. Als sich jedoch nach und nach herausstellte, wie gut der Plan funktionierte, wie vorteilhaft er für beide Seiten war, erübrigten sich die Kontrollen.
    Das ist lange her. Während ich hier angle und der Regen leicht auf mein Schutzdach fällt, kommt es mir vor, als könnte es ebenso gut auch gar nicht passiert sein. Das Geräusch des Regens auf dem Kunststoff hat etwas Beruhigendes. Mir ist warm, ich habe zu essen, so kann ich leben.
    Ich stelle mir vor, mich von Weitem zu sehen: ein Mann, der unter einer gelben Plane auf einem nassen Felsen hockt und eine Angel ins Meer hält. Hinter ihm der Sand, die bröckelnden Kliffs, Gras und ein unendlich weiter grauer Himmel. Ich stehe oben am Kliff, schaue auf mich hinunter, aufs Meer hinaus, und sehe das so.
    Es ruckt an der Leine, und ich fliege vom Rand des Kliffs zurück zu mir.
    Der Fisch ist kräftig. Er wird mir für zwei Tage reichen. Ich hole ihn ein und schlage ihm einen Stein auf den Kopf. Dann setze ich das Messer unter seinem Kiefer an, schlitze ihn mit einer einzigen Bewegung auf und nehme ihn aus. Das habe ich schon oft gemacht. Ich ziehe die Innereien mit den Fingern heraus und werfe sie einer Möwe hin, die allein auf einem
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