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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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spüre ich, wie der Wind meinen Schweiß trocknet. Es macht mich schaudern.
    Am Abend ritze ich wieder einen Strich in die Wand.
    Als ich hierherkam, spielte ich mit dem Gedanken, der Insel einen Namen zu geben, zum Meer hin ein Schild aufzustellen für den Fall, dass man nach mir suchte. Aber dann habe ich es bleiben lassen. Die Insel bleibt besser ohne Namen. Wie hätte ich sie auch nennen sollen? Ein Name für einen geschichtslosen Ort wäre sinnlos.
    Es regnet stark, als ich zum Schwimmen an den Strand gehe. Ich habe nichts bei mir und gehe nackt den Steiluferweg hinunter. In der ersten Zeit war ich dabei immer befangen. Jetzt denke ich mir nichts mehr dabei. So bleiben meine Sachen trocken, und außerdem ist es hier nie unerträglich kalt. Meine Füße sind so abgehärtet, dass ich die Steinchen unter den Sohlen nicht spüre.
    Eine halbe Meile vor der Küste liegt ein Riff, und dorthinschwimme ich, sodass ich den Schaum der Brandungswellen im Gesicht spüre. Den aufsprühenden Schaum und zwischendurch die Regentropfen. Das Meer ist warm, der Regen kalt. Salz schmeckend lasse ich mich auf dem Rücken im Wasser treiben, bevor ich langsam umkehre. Als ich heute wieder an den Strand komme und dastehe und nach Luft ringe, sehe ich weiter unten an der Küste etwas. Noch nie ist hier etwas angespült worden außer toten Fischen und Vögeln. Ich kann nicht erkennen, was es ist, aber es ist dunkelrot und sieht nicht so aus, als ob es auf den grauen Sand dort hingehört. Ich gehe hin, und als ich näher herankomme, sehe ich, dass es eine Jacke ist, eine Herrenjacke, klatschnass, zerrissen und von Meeresschnecken bedeckt. Ich schüttele sie ab und halte die Jacke ans Licht.
    Wie ist sie hierhergekommen? Ich habe so lange nichts Angeschwemmtes gesehen, und dann dies, so fehl am Platz. Die Routen, die wir einst im Krieg gefahren sind, liegen viel weiter nördlich und sind nach dem Frieden nur ein, zwei Jahre noch genutzt worden. Zum Fischen fährt keiner mehr raus. Was es an Fischen noch gibt, findet sich eher in Küstennähe. Mit dem Boot kann man tagelang ausfahren, ohne auch nur einen Fisch zu fangen. Ich hatte Glück, dass ich auf dem Weg hierher ein paar erwischt habe. Als ich Bran verließ, hatten wir erwogen, Schiffe auszusenden, um vergessene Gebiete wiederzuentdecken, Regionen, deren Klima sich zum Besseren gewandelt hatte. Vielleicht sind diese Erkundungen im Gange. Aber hier? So nah an Axum vorbeizufahren läuft nach den Bestimmungen des Friedensvertrags auf eine Kriegserklärung hinaus. Ein vom Kurs abgekommenes Schiff vielleicht, die Besatzung hungrig, der Kapitän in seiner Position geschwächt. Meuterei, der Kapitän über Bord geworfen, seine Sachen unter die Mannschaft verteilt. Bis auf die Jacke, die im Handgemenge über Bord ging.
    Oder ist sie das Überbleibsel eines anderen Verbannten? Treibgut aus einer vergessenen Welt?
    Mich fröstelt. Ich schaue mich um. Ich weiß nicht, ob ich jemanden zu sehen erwarte.
    Ich denke an die Schatten überm Horizont, die Augen, die hinter mir her starren. Ich beobachte den aufziehenden Nebel. Eine Möwe schreit.
    Plötzlich fliege ich wieder. Unter mir sehe ich einen Mann, der eine rote Jacke gepackt hält. Ich überblicke die Insel. Je höher ich steige, desto mehr sehe ich von der Insel, aber desto weniger Einzelheiten erkenne ich. Ist das ein Fels oder ein Mensch da im Schatten der Steilwand? Eine Mulde im Gras oder ein am Boden Deckung Suchender? Ich weiß es nicht. Es wird dunkler, und die Gestalt mit der roten Jacke am Strand verliert sich im Nebel und im letzten Licht des Tages.

2
    In der Höhle breite ich die Jacke auf einem Stein aus. Ich setze mich ihr gegenüber und stochere in meinem Essen. Ich habe mich nicht abgetrocknet.
    Die Jacke sieht aus, als gehörte sie zu einer Uniform. Schmutzig rot. Metallknöpfe. Sie kommt nicht aus Bran. Niemand aus meinem Volk würde so etwas tragen. Die Uniform unserer Soldaten war braun.
    Das versetzt mich zurück.
    Ich muss daran denken, wie ich einen Mann getötet habe. Einen Mann mit so einer Jacke, nur schlichter, nicht so gut gemacht. Ich habe viele getötet, als Soldat und auch später, aber an diesen erinnere ich mich besonders. Wir hatten ein Haus in einer ausgebrannten Siedlung umstellt. Ob sie in jüngeren Kämpfen zerstört worden war oder Jahrzehnte zuvor, weiß ich nicht. Eine feindliche Abteilung hatte sich in den Ruinen verschanzt. Unser Befehl lautete, das Haus, in dem sich die Soldaten versteckt hielten, zu
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