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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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ob ich jemanden mitbringen wolle, wenn ich ihn besuchte. Ich sagte Nein. Wir haben nie wieder von ihr geredet.
    Damals am Strand habe ich sie auch geküsst. Alle sahen zu. Es gab kein Geräusper, keinen Kommentar. Sie schauten nur zu. Mein Abschied war eine stille Angelegenheit. Alle wollten mich loswerden, aber alle wussten auch, welche Rolle sie selbstgespielt hatten. Die meisten Leute blieben zu Hause, blieben in der Stadt, als ihr alter Marschall mit dem Nötigsten an Proviant und Ausrüstung auf einem Boot ausgesetzt wurde.
    Ich küsste sie. Diesmal entzog sie sich nicht. Dafür bin ich noch immer dankbar.
    Etwa eine halbe Meile vor der Küste drehte ich mich zum letzten Mal nach ihnen um. Nur Abel und Tora waren noch da. Sie standen halb einander zugewandt. Vielleicht haben sie sich unterhalten. Ich wüsste immer noch gern, was sie gesagt haben.
    Als ich sie küsste, roch sie nach der herben Seife, die sie zum Spülen benutzten. Den Geruch habe ich jetzt in der Nase.
    Ich frage mich, ob die Leute in der Stadt mich erkennen würden. Ich habe einen Bart und lange Haare. Die Haare schneide ich mir ab und zu, aber rasieren kann man sich mit einem Messer schlecht. Außerdem bin ich braun, wie die Insel, und mager. Ich esse zwar regelmäßig, aber von den Sachen hier bekommt man kein Fleisch auf die Knochen. In Bran war ich blass und etwas übergewichtig von der vorwiegend sitzenden Lebensweise, ein schlaffer, verweichlichter Mann. Wir hatten zwar nicht viel zu essen, aber es war oft sehr sättigend. Jetzt habe ich breitere Schultern, kräftige Beine und kein Gramm zu viel am Körper. Ich bin insgesamt besser in Form.
    Vielleicht wollten sie, dass ich auf der Fahrt hierher sterbe. Wenn ein Mensch Gott weiß wo allein ertrinkt, ist niemand schuld. Aber ich bin nicht ertrunken. Ich habe überlebt. Von Tau und Regenwasser. Von Seetang. Ich habe ein paar Fische gefangen. Einmal habe ich einen toten von der Oberfläche des leeren Meers gefischt. Ich kam auf die Insel und habe ihr ein Leben abgetrotzt. Allein. Ich stelle mir Menschen vor. Andere. Die Gesichter von anderen. Stimmen. Aber ich weiß, dass sie nicht real sind. Ich weiß, dass sie nicht leben.
    Jetzt aber diese Jacke. Sie ist vor Kurzem noch getragen worden. Essen und Brennmaterial müssen heute warten. Ich muss einen Rundgang um die Insel machen. Ich muss nachsehen, ob ich noch alleine bin.
    Ich habe lange in der Höhle gesessen, und bis ich aufbreche, ist es Nachmittag. Nach einem Fußweg von etwas mehr als einer Stunde kommt das Steilufer in Sicht. Man könnte es schon von viel weiter weg sehen, aber man muss erst um eine Landspitze herum. Es ist ein imposanter Anblick, zumindest nach Inselmaßstäben. Hoch, grau und bröckelnd ragt es empor wie das angefressene Standbild eines vergessenen Herrschers. Obwohl sein Zerfall das näherrückende Ende meines Hierseins bedeutet, erfüllt mich nicht Angst, sondern Ehrfurcht, wenn ich davorstehe. Die See vor der Küste ist immer vom Schlamm verfärbt und immer rau. Manchmal denke ich, sie sieht wie Blut aus.
    Heute ist Ebbe. Die See ist hinter einen langen Streifen grauen Strandes zurückgewichen. Die Gezeiten sind hier extrem. In ein paar Stunden werden die Wellen von unten gegen das Steilufer schlagen, der Regen etwas sanfter von oben. Weiter weg am Strand sehe ich etwas Helleres, so hell, dass es fast weiß ist. Ein Felsen vielleicht. Aber er ist anders als alle, die ich bisher auf der Insel gesehen habe.
    Ich steige zum Strand hinunter.
    Ein paar Minuten später bin ich näher dran und fasse das Ding ins Auge. Ich gehe langsamer, bleibe stehen. Jetzt weiß ich, was es ist. Ich höre nur noch den Wind. Den Wind und die Wellen. Alles hat sich verlangsamt. Steht still. Ich hole Luft, es scheint Minuten zu dauern. Ich hebe einen Stein auf und setze mich wieder in Bewegung. Laufe auf die Erhebung zu. Bleibe wieder stehen. Laufe. Biege nach ein paar Felsen ab und kaueremich dahinter, ohne das Ding aus den Augen zu lassen. Mein Atem geht jetzt schneller. Er kommt schnarrend, wie wenn ich Holz hacke. Es rührt sich nicht.
    Ich beobachte es minutenlang. Der Regen fällt in Schwaden über dem Strand. Ich spüre, wie er mir in die Augen und am Nacken entlangläuft. Es regnet stark, und manchmal verschwindet der Mann hinter Wasservorhängen. Ich muss mir die Augen wischen, um ihn richtig zu sehen.
    Es ist seit zehn Jahren der erste Mensch, den ich zu Gesicht bekomme. Er ist dick und fett. Kein Arbeiter. Sein Gesicht ist von
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