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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit
Autoren: Alastair Bruce
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mir abgewandt. Er liegt auf dem Bauch, die Füße einwärts gedreht, die Handflächen nach oben. Er hat keine Haare. Ein weißer Wal, und möglicherweise ein toter weißer Wal.
    Die Jacke muss ihm gehören.
    In den vergangenen zehn Jahren habe ich nur Schemen gesehen. Das hier ist etwas anderes, so massiv, so ganz und gar kein Trugbild. Ich kneife die Augen zu, halte sie sekundenlang geschlossen. Jedes Mal, wenn ich sie öffne, ist er noch da.
    Langsam trete ich hinter den Felsen hervor. Ich will etwas sagen. Bringe kein Wort heraus. Es ist, als hätte ich vergessen, wie man spricht. Ich setze neu an. Diesmal ist es ein Hauchen, kaum lauter als der Wind. Ich schlucke und versuche es noch einmal. Endlich bringe ich das Wort heraus. »Hallo.« Es ist ein Flüstern, ein Krächzen. Noch einmal. Das Wort ist nicht mehr als ein Brummton. Immer noch weit weg von dem Wort, wie ich es kenne. Er rührt sich nicht. Ich bin jetzt drei Meter von ihm entfernt. Ich gehe im Kreis um ihn herum, behalte den Abstand bei, halte den Stein gepackt. Ein Hund und seine Beute. Ich sehe sein Gesicht nur zum Teil. Er ist glatt rasiert, hat Hängebacken und ein Doppelkinn. Die Augen sind geschlossen. Man sieht ihm an, dass er nicht tot ist.
    Ich hocke mich hin und mustere sein Gesicht genauer. Er atmet. Sein Oberkörper dehnt sich alle paar Sekunden, und seine Lippen teilen sich beim Ausatmen. Er sieht friedlich aus. Ein Mann, der am Strand ein Nickerchen hält.
    Seine Wurstfinger liegen auf dem Sand. Weiße Würmer auf schwarzem Grund. Er ist mit Wassertropfen übersät, vom Regen oder vom Meer. Sie glitzern im letzten Tageslicht.
    Ich stehe auf, gehe zu ihm hin und stoße ihm leicht den Fuß in die Rippen. Er rührt sich nicht. Ich beuge mich vor und rüttle ihn unsanft an der Schulter. Er ist kalt wie Stein. Seine Augenlider öffnen sich. Seine Augen sind rot, die Iris dunkel, beinah schwarz. Ein paar Sekunden lang regt er sich nicht. Plötzlich bekommt er Angst, will weg von mir und versucht sich mit den Armen hochzustemmen. Er schafft es nicht. Sein Atem geht schneller. Ich halte die Hände hoch, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich ihm nichts Böses will, und trete einen Schritt zurück. Ich sage nichts. Stattdessen gehe ich wieder in die Hocke, damit ich ihn nicht so überrage. Das beruhigt ihn offenbar ein wenig, und er atmet wieder gleichmäßiger. Wir blicken uns an. Ich sehe sein Gesicht nach wie vor nur halb.
    Kurz darauf sage ich noch einmal »Hallo«. Jetzt erkenne ich das Wort, aber meine Zunge fühlt sich schwer und dick an. Er antwortet nicht. Ich stelle mich vor. Ich weiß nicht, ob ich meinen militärischen Titel nennen soll oder nur meinen Taufnamen. Beides, entscheide ich. »Mein Name ist Bran. Marschall. Ich lebe hier.«
    Ich merke, wie ich das alles hervorstoße. Ich muss mich erst wieder ans Sprechen gewöhnen. An seinen Augen ist nichts abzulesen. Ich weiß nicht mal, ob er mich gehört hat. Ich versuche es erneut. »Woher kommen Sie? Axum.« Das ist eher eine Feststellung als eine Frage.
    Immer noch nichts. »Ihnen passiert nichts. Reden Sie.«
    Der Mann schließt die Augen. Vielleicht steht er unter Schock. Ich habe keine Ahnung, was er durchgemacht hat. Ich lege ihm meine Jacke um, damit er es wärmer hat. Als ich mich über ihn beuge, umfängt mich sein Geruch. Er riecht nach Meer. Aber nicht angenehm.
    Wir haben wenig Zeit. Noch ist Ebbe, aber in ein paar Stunden kommt die Flut, dann würden wir hier beide ertrinken. Und es wird dunkel. Ein bisschen kann ich ihn noch schlafen lassen, aber dann müssen wir den Weg zurückgehen, den ich gekommen bin. Eine halbe Meile von hier kommt man schon höher hinauf. Schwach, wie er aussieht, werde ich ihn wahrscheinlich halb tragen müssen. Ich bringe meine Tasche schon mal zu der höheren Stelle, damit ich nachher nicht noch mehr zu tragen habe.
    Als ich wieder zu ihm komme, ist es dunkel. Er liegt noch genauso da. Ich wecke ihn auf. »Hier ertrinken Sie.« Er antwortet nicht, scheint mich aber zu verstehen und versucht sich aufzurichten. Ich greife ihm unter die Arme und ziehe ihn hoch. Seine Beine geben nach, und er fällt halb in mich hinein. Er kommt mir vor wie ein weiße Made, deren einziger Daseinszweck im Fressen besteht. Ich dränge meinen Widerwillen zurück, schiebe ihm den Arm unter die Schultern und lege seinen Arm auf meine. So gehen wir langsam den Strand entlang. Einmal schmunzle ich wegen des Bildes, das wir abgeben. Einem Beobachter, der über uns fliegt,
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