Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
Vom Netzwerk:
seiner Mutter am Straßenrand. Es war Bücherwoche. Deshalb war der Kleine verkleidet. Cecilia beobachtete ihn, dachte vor sich hin – Hmm , Spiderman ist doch gar keine Figur aus einem Buch  –, als der Kleine sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund von der Hand seiner Mutter losriss, über die Bordsteinkante hüpfte und auf die Fahrbahn lief, mitten hinein in den Verkehr. Cecilia schrie. Und haute instinktiv, wie sie sich später erinnerte, mit der Faust auf die Hupe.
    Wenn sie nur zehn Minuten später losgefahren wäre – oder nur fünf Minuten –, hätte sie von alldem nichts mitbekommen. Der Tod des kleinen Jungen hätte sich für sie in nichts weiter bemerkbar gemacht als in einer kleinen Verkehrsumleitung. Jetzt aber war er eine Erinnerung, eine, derentwegen ihre Enkel später wohl einmal sagen würden: »Halt doch meine Hand nicht so fest , Grandma!«
    Zwischen dem kleinen Spiderman und dem Brief gab es ganz offenkundig keine Verbindung.
    Aber das Bild drängte sich zu allen (un)möglichen Zeiten in ihr Bewusstsein.
    Mit der Fingerspitze schnippte Cecilia den Brief über den Tisch und griff nach dem Buch, das Esther aus der Bibliothek geholt hatte: Die Berliner Mauer .
    Die Berliner Mauer also. Na prima!
    Dass die Berliner Mauer fortan eine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielen würde, war ihr heute Morgen beim Frühstück zum ersten Mal klar geworden.
    Sie hatte allein mit Esther am Küchentisch gesessen. John-Paul war verreist, bis Samstag in Chicago, und Isabel und Polly lagen noch in den Federn.
    Normalerweise setzte sich Cecilia morgens nicht in Ruhe hin. Sie nahm ihr Frühstück für gewöhnlich im Stehen am Küchentresen ein, während sie Pausenbrote zurechtmachte, die Tupperware-Bestellungen auf ihrem iPad durchging, die Spülmaschine ausräumte, ihren Kunden eine SMS mit dem Termin für die nächste Tupper-Party schickte oder sonst irgendetwas erledigte. Es kam jedenfalls höchst selten vor, dass sie Zeit allein mit ihrer ungewöhnlichen, herzallerliebsten mittleren Tochter verbrachte. Und so saß sie bei einer Schale Bircher-Müsli, derweil Esther eine Schale Reisflocken futterte, und wartete ab.
    Das hatte sie von ihren Töchtern gelernt. Keinen Ton sagen. Keine Fragen stellen. Ihnen einfach Zeit lassen. Dann fangen sie von ganz allein an, von all den Dingen, die sie gerade so beschäftigten, zu erzählen. Es war ähnlich still wie beim Angeln. Man brauchte Ruhe und Geduld. (Hatte sie zumindest gehört. Cecilia würde nämlich alles andere lieber tun als angeln.)
    Die Stille war Cecilias Sache nicht unbedingt. Sie redete gern. »Mal im Ernst, hältst du auch irgendwann mal deine Klappe?«, hatte ein Exfreund sie einmal gefragt. Wenn sie nervös war, redete sie viel. Jener Exfreund musste sie also sehr nervös gemacht haben. Aber sie redete auch viel, wenn sie glücklich war.
    An diesem Morgen jedoch hatte sie nicht geredet. Sie aß nur und wartete ab, bis Esther, und da war sie sich sicher, irgendwann zu reden beginnen würde.
    »Mum«, sagte sie schließlich mit ihrer heiseren, akkuraten Stimme und dem für sie typischen leichten Lispeln. »Wusstest du, dass einige Menschen in einem Heißluftballon, den sie selbst gebastelt hatten, über die Berliner Mauer geflohen sind?«
    »Nein, wusste ich nicht«, sagte Cecilia, obwohl sie es vielleicht doch wusste.
    Adieu, Titanic  – hallo, Berliner Mauer , dachte sie bei sich.
    Es wäre ihr lieber gewesen, Esther hätte ihr etwas über ihre augenblickliche Gefühlslage erzählt, über ihre Schulsorgen etwa, ihre Freunde, oder sie irgendetwas zum Thema Sex gefragt – aber nein, sie wollte offenbar über die Berliner Mauer reden.
    Seit Esther drei Jahre alt war, hatte sie ein Interesse für bestimmte Themen entwickelt, oder, genauer gesagt, sie war wie besessen davon. Zuerst waren es die Dinosaurier. Sicher, viele Kinder interessieren sich für Dinosaurier, doch Esthers Interesse war, nun ja, es war anstrengend … und offen gestanden auch ein wenig eigenartig. Nichts anderes interessierte sie. Sie malte Dinosaurier, spielte mit Dinosauriern, verkleidete sich als Dinosaurier. »Ich bin nicht Esther«, sagte sie. »Ich bin T-Rex.« Jede Gutenachtgeschichte musste von Dinosauriern handeln. Jede Unterhaltung musste sich irgendwie um Dinosaurier drehen. Zum Glück übernahm das John-Paul, denn Cecilia war nach fünf Minuten schon gelangweilt. (Sie waren ausgestorben! Was gab es da noch zu reden?!) John-Paul unternahm mit Esther Ausflüge in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher