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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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küsste.
    Cecilia fügte ihrer To-do-Liste, die bereits fünfundzwanzig Punkte für diesen Tag enthielt und die sie auf ihrem iPhone mit einer App verwaltete, einen weiteren Punkt hinzu: Berliner Mauerstein für E raussuchen . Gegen zwei Uhr mittags kam sie dazu; sie stieg auf den Speicher, um danach zu suchen.
    Speicher war wahrscheinlich zu viel gesagt für die kleine Lagerfläche unter dem Dach. Um hinaufzusteigen, musste man erst eine Klapptreppe herunterziehen, die in der Decke eingelassen war.
    Und war man dann oben, musste man die Knie gebeugt halten, damit man nicht mit dem Kopf gegen die Decke stieß. John-Paul weigerte sich schlichtweg, auf den Speicher zu steigen. Er litt an fürchterlicher Klaustrophobie und nahm lieber jeden Tag die Treppe bis in den sechsten Stock zu seinem Büro, nur um nicht den Fahrstuhl benutzen zu müssen. Der Arme hatte regelmäßig Albträume, in denen er sich in einem Raum gefangen sah, während sich die Wände immer enger um ihn zusammenzogen. »Die Wände!«, schrie er dann und fuhr schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen auf. »Warst du als Kind vielleicht mal im Wandschrank eingesperrt?«, hatte Cecilia ihn einmal gefragt (das traute sie seiner Mutter glatt zu), doch er hatte verneint. »Nein, John-Paul hat als Junge nie Albträume gehabt«, hatte ihre Schwiegermutter ihr versichert, als Cecilia sie einmal danach fragte. »Er war ein süßer, kleiner Langschläfer. Vielleicht kochst du ihm spät abends viel zu fett?« Inzwischen war Cecilia an diese Albträume gewöhnt.
    Der Speicher war klein und vollgestopft, aber ordentlich und gut organisiert. Was sonst? Organisiert schien über die letzten Jahre ihre bestimmende Eigenschaft geworden zu sein – als wäre sie ein kleiner Star, dem dafür eigentlich Ruhm und Ehre gebühren müsste. Es war schon lustig, wie ihre Familie und Freunde sie damit aufgezogen und gefrotzelt hatten, als sie diese Eigenschaft immer stärker kultivierte und dauerhaft beibehielt, sodass ihr Leben heute außergewöhnlich gut organisiert war – als wäre die Mutterrolle ein Sport und sie eine Topathletin. Es war, als würde sie in einem fort denken: Wie weit kann ich den Bogen spannen? Was kann ich noch alles in mein Leben packen, ohne die Kontrolle darüber zu verlieren?
    Und genau deshalb stapelten sich auf Cecilias Speicher die fein säuberlich etikettierten Plastikbehälter bis unters Dach, während andere Leute, wie zum Beispiel ihre Schwester, ganze Abstellräume voller unsortiertem, verstaubtem Gerümpel hatten. Das Einzige, was nicht ganz »Cecilia-like« war, waren die Schuhkartons, die sich in der Ecke türmten. Sie gehörten John-Paul. Er hob sämtliche Belege eines Steuerjahres darin auf, ein Schuhkarton für ein Steuerjahr. Das machte er seit Jahren so, schon bevor er Cecilia kennengelernt hatte. Er war stolz auf seine Schuhkartons, und sie schaffte es, sich am Riemen zu reißen, um ihm nicht ständig vorzuhalten, dass sich die Stellfläche mit einem Ablageschrank sehr viel effizienter nutzen ließe.
    Dank ihrer etikettierten Plastikbehälter fand sie den Berliner Mauerstein ziemlich schnell. Sie zog den Deckel mit der Beschriftung Cecilia: Reise-Souvenirs. 1985–1990 ab. Und da lag er, wie eh und je, in seiner verblassten braunen Papiertüte. Ihr kleines Stück Geschichte. Sie nahm den (Beton?-)Stein heraus und hielt ihn in der flachen Hand. Er war noch kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er sah nicht besonders beeindruckend aus, aber er erfüllte hoffentlich seinen Zweck, um Esther ein leichtes und so seltenes Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Man musste sich schon echt anstrengen, um ein Lächeln von ihr zu bekommen.
    Dann ließ Cecilia ihre Gedanken schweifen (gut, sie kriegte viel geschafft jeden Tag, aber sie war keine Maschine , sie vertändelte auch gern mal ein bisschen die Zeit), kramte in der Tüte und lachte, als sie das Foto sah, das sie, den jungen Deutschen und die Eiswürfel zeigte. Er war, genau wie das Stück Mauerstein, nicht ganz so beeindruckend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das Telefon klingelte und riss sie aus der Vergangenheit. Sie stand viel zu schnell auf und schlug mit dem Kopf gegen die Decke. Mann, dieses blöde Gemäuer! Sie fluchte, taumelte nach hinten und stieß mit dem Ellbogen gegen John-Pauls Schuhkarton-Turm.
    Von mindestens dreien sprang der Deckel ab, der Inhalt verselbstständigte sich und löste eine wahre Zettel-Lawine aus. Genau deshalb waren diese Schuhkartons alles andere
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