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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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dreiundzwanzig Kinder zum Mittagessen kommen würden und sie einen guten Schluck würde brauchen können. Dabei war sie als Gastgeberin ein alter Hase. Sie richtete Ostern aus, Muttertag, Vatertag und Weihnachten. John-Paul, ihr Mann, hatte fünf jüngere Brüder, alle verheiratet, und alle hatten sie Kinder. Da kam eine ganz schöne Horde zusammen. Planung war da das A und O. Eine minutiöse Planung.
    Sie nahm ihren Tee mit zum Tisch. Wie hatte sie bloß beschließen können, auf Wein zu verzichten, nur weil Fastenzeit war? Polly hatte es da gescheiter angestellt. Sie verzichtete auf Erdbeermarmelade. Cecilia hatte nie erlebt, dass Polly ein gesteigertes Interesse an Erdbeermarmelade gehabt hätte, obwohl sie seither natürlich vor dem Kühlschrank stand und sehnsüchtig danach schielte. Die Macht der Entsagung.
    »Esther!«, rief sie laut.
    Esther saß im Zimmer nebenan und schaute zusammen mit ihren Schwestern bei einer Tüte Chips mit Salz- und Essiggeschmack, die von der Grillparty zum »Australischen Tag« noch übrig war,eineStaffel von The Biggest Loser – Abspecken im Doppelpack. Warum ihre drei gertenschlanken Töchter es liebten, übergewichtigen Leuten beim Schwitzen, Heulen und Hungern zuzusehen, war ihr schleierhaft. Gesündere Essgewohnheiten jedenfalls schienen sie dabei nicht zu lernen. Eigentlich sollte sie hinübergehen und die Chipstüte konfiszieren, aber alle drei hatten den Lachs mit gedämpftem Brokkoli, den es zum Abendessen gegeben hatte, klaglos aufgegessen, und Cecilia hatte jetzt nicht den Nerv, sich mit ihnen zu streiten.
    Aus dem Fernseher hörte sie eine Stimme dröhnen: »Es gibt nichts umsonst!«
    Wohl wahr, das konnten ihre Töchter ruhig hören. Und niemand wusste das besser als Cecilia! Trotzdem, sie sah es nicht gern, wenn ein Hauch von Abscheu über die glatten, jungen Gesichter ihrer Töchter huschte. Sie achtete stets sehr darauf, vor den Mädchen keine negativen Kommentare über Figur und Körper zu machen, was man von ihren Freundinnen nicht gerade sagen konnte. Neulich erst hatte Miriam Openheimer bemerkt, und zwar so laut, dass es ihre drei leicht beeinflussbaren Töchter hören konnten: »Mein Gott, seht euch mal meine Wampe an!« Dabei drückte sie ihr Fleisch um den Bauch mit den Fingerspitzen zusammen, als wäre es richtig ekelhaft. Ganz große Klasse, Miriam, als würde unseren Töchtern nicht sowieso schon in einer Unzahl von Botschaften tagtäglich vermittelt, ihren Körper zu hassen!
    Zugegeben, Miriams Bauch wurde langsam runder und speckiger.
    »Esther!«, rief sie noch einmal.
    »Was ist denn?«, fragte diese laut zurück. Ihre Stimme klang gelassen, leicht aufgesetzt, eine unbewusste Nachahmung ihrer eigenen, wie Cecilia vermutete.
    »Wessen Idee war es, die Berliner Mauer zu bauen?«
    »Die von Nikita Chruschtschow, da ist man sich ziemlich sicher!«, antwortete Esther prompt und sprach den exotisch klingenden Namen genüsslich aus, legte ihren ganz eigenen russischen Akzent hinein. »Er war so was wie der Premierminister von Russland oder der ranghöchste Premier. Könnte aber auch sein, dass …«
    Sogleich platzten ihre Schwestern, manierlich wie sie waren, dazwischen:
    »Halt doch mal die Klappe, Esther!«
    »Esther! Ich kann den Fernseher nicht hören.«
    »Danke schön, mein Schatz!« Cecilia nippte an ihrem Tee und begab sich auf eine gedankliche Zeitreise in die Vergangenheit, um diesen Chruschtschow in seine Schranken zu weisen.
    Nein, Herr Chruschtschow, Sie dürfen keine Mauer bauen. Sie wird nicht beweisen, dass der Kommunismus funktioniert. Sie bringt überhaupt gar nichts. Sehen Sie mal, ich gebe ja zu, dass der Kapitalismus auch nicht das Gelbe vom Ei ist! Ich kann Ihnen gern meine letzte Kreditkartenabrechnung zeigen. Aber Sie müssen wirklich noch einmal in sich gehen und scharf nachdenken.
    So hätte sie ein halbes Jahrhundert später nicht diesen Brief gefunden, der sie so … so … tja, wie sagt man noch gleich?
    … unkonzentriert machte. Jawohl, das war es.
    Sie war lieber konzentriert. Sie mochte diese Fähigkeit und war stolz, sie zu besitzen. Ihr Alltag bestand aus allerlei winzigen Kleinigkeiten – »Koriander kaufen«, »Isabel Haare schneiden«, »Wer sieht Polly am Dienstag beim Ballett zu, während ich Esther zur Sprachtherapie bringe?«. Er war wie ein riesengroßes Puzzle, eins mit Tausenden von Teilen, mit denen Isabel sich stundenlang beschäftigen konnte. Aber auch wenn Cecilia keine Geduld für solche Puzzlespiele
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