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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks
Autoren: Liane Moriarty
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spezielle Museen. Er brachte ihr Bücher mit und unterhielt sich stundenlang mit ihr über Herbivoren und Canivoren.
    Esthers »Interessen« reichten von Achterbahnen bis Riesenkröten. Zuletzt war es die Titanic gewesen. Inzwischen war sie zehn und alt genug, ihre eigenen Recherchen in der Bibliothek oder im Internet anzustellen. Und Cecilia war erstaunt über die Infos, die sie so zusammentrug. Welches zehnjährige Kind lag abends im Bett und las historische Bücher, die so groß und klobig waren, dass es sie kaum in den kleinen Händen halten konnte?
    »Fördern Sie das!«, sagte ihr Klassenlehrer, aber Cecilia sorgte sich manchmal eher. Es schien ihr, als sei Esther möglicherweise ein klein wenig autistisch; zumindest ging ihr Verhalten in diese Richtung. Doch als sie ihre Bedenken ihrer Mutter gegenüber geäußert hatte, hatte die nur darüber gelacht. »Esther ist genau wie du früher!«, meinte sie nur. Aber das stimmte nicht.
    »Weißt du, was? Ich habe ein Stück von der Berliner Mauer hier«, sagte Cecilia an diesem Morgen zu Esther. Diese Tatsache fiel ihr plötzlich wieder ein, und es war eine Wonne zu sehen, wie Esthers Augen vor Neugier zu leuchten begannen. »Ich war in Deutschland, als die Mauer fiel.«
    »Kann ich es sehen?«, fragte Esther.
    »Du kannst es haben, mein Liebling.«
    Schmuck und Kleider für Isabel und Polly. Ein Stück Berliner Mauer für Esther.
    Cecilia, damals dreiundzwanzig, war 1989 mit ihrer Freundin Sarah Sacks auf einer sechswöchigen Reise durch Europa, nur zwei Monate, nachdem man den Abriss der Berliner Mauer verkündet hatte. (Sarahs berühmte Unschlüssigkeit gepaart mit Cecilias berühmter Entscheidungsfreude machten die beiden zu perfekten Reisegefährten. Sie kriegten sich nie in die Haare.)
    Als sie in Berlin eintrafen, sahen sie jede Menge Touristen entlang der Mauer, die versuchten, mit Schlüsseln, Steinen oder allem, was sich sonst so finden ließ, kleine Stücke als Souvenirs herauszuhauen. Die Mauer sah aus wie der riesige Kadaver eines Drachens, der einst die Stadt terrorisiert hatte, und die Touristen waren wie Krähen, die seine Überreste aushackten.
    Ohne geeignetes Werkzeug war kaum ein ordentliches Stück herauszuschlagen, und so beschlossen Cecilia und Sarah (sprich Cecilia), sich jeweils ein Stück bei einem der geschäftstüchtigen Berliner zu kaufen, die kleine Teppiche ausgelegt hatten und eine bunte Palette von allerlei Waren feilboten. Hier hatte der Kapitalismus wirklich den Sieg davongetragen. Man konnte alles bekommen – von grauen Steinschnipseln, nicht größer als eine Murmel, bis hin zu riesigen Brocken, bunt besprüht mit Graffiti.
    Cecilia wusste nicht mehr, was sie bezahlt hatte für diesen winzigen gräulichen Stein, der genauso gut aus irgendeinem Vorgarten hätte stammen können. »Ja, daher kommt er wahrscheinlich auch«, sagte Sarah, als sie mit dem Nachtzug Berlin verließen. Und sie lachten über ihre eigene Gutgläubigkeit. Aber zumindest fühlten sie sich, als seien sie Teil der Geschichte geworden. Cecilia hatte ihren Stein in eine Tüte gesteckt und darauf geschrieben: MEIN BERLINER MAUERSTEIN ! Und als sie wieder daheim in Australien war, hatte sie den Stein mit allen anderen Souvenirs dieser Reise (Glasuntersetzer, Zugfahrkarten, Speisekarten, ausländische Münzen, Hotelschlüssel) in eine Papiertüte gesteckt.
    Jetzt wünschte Cecilia, sie hätte sich intensiver mit der Mauer beschäftigt, mehr Fotos gemacht, mehr kleine Geschichten gesammelt, die sie Esther nun hätte erzählen können. Stattdessen verband sie mit dieser Berlinreise vor allem einen hübschen, braunhaarigen jungen Deutschen, mit dem sie in einem Nachtclub herumgeknutscht hatte. Er hatte die Eiswürfel aus seinem Glas geangelt und sie über ihr Dekolleté gleiten lassen, was sie damals extrem betörend gefunden hatte. Im Nachhinein kam es ihr aber ziemlich unhygienisch und klebrig vor.
    Wieso war sie damals keine neugierige, politisch interessierte Person gewesen, eine von denen, die die Bewohner von Berlin in ein Gespräch verwickelten und sie fragten, wie es denn all die Jahre so gewesen war, im Schatten dieser Mauer zu leben? Und jetzt hatte sie für ihre Tochter keine andere Geschichte parat als die von Eiswürfeln und heißen Küssen. Klar, Isabel und Polly würden diese Geschichte liebend gern hören. Obwohl, Polly war in einem Alter (und vielleicht auch Isabel), in dem ihr wohl eher grauste bei dem Gedanken, dass ihre Mutter überhaupt irgendwen
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