Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
die Croissants in ein Brotkörbchen und das Baguette deutlich sichtbar auf den Tisch. Dann breitete er die karierten Sets aus und holte die Schüsseln der Kinder mit ihren in japanischer Schrift kalligrafierten Vornamen und die Tasse aus dem Schrank, aus der Naoko morgens ihren Tee mit Milch trank. Konfitüre, Frühstücksflocken, Orangensaft. Die einsame Beschäftigung stimmte ihn nicht traurig, denn er frühstückte schon lange nicht mehr mit Naoko und den Kindern.
    Als er die Küche verlassen wollte, streifte sein Blick unwillkürlich die an der Wand aufgehängten Fotos. Er schaltete das Licht ein. Ein Bild zeigte Naoko und ihn vor acht Jahren auf der Terrasse des Tempels Kiyomizu-dera oberhalb von Kyoto. Er selbst wirkte steif und lächelte gekünstelt, während Naoko mit der Professionalität eines Models ihre Schokoladenseite zur Schau stellte. Trotz der Pose war in diesem Foto das Glück zu spüren, das sie einte – die Achtung voreinander und der Stolz, zusammenzugehören.
    Das nächste Bild war ein Familienfoto aus dem Jahr 2009, aufgenommen in Shibuya, einem der angesagten Viertel Tokios. Passan hatte den damals vierjährigen Hiroki auf dem Arm. Der Kleine trug eine Mütze in der Form des Waldgeistes Totoro, einer bekannten, von Miyazaki gestalteten Comic-Figur aus einem Animationsfilm. Auf Naokos Arm saß der sechsjährige Shinji, der mit seinen kleinen Fingern das v-förmige Siegeszeichen zeigte. Alle vier lachten, aber man spürte das Unbehagen und die Verkrampfung der Erwachsenen. Ermüdungserscheinungen und Frust waren so etwas wie Metastasen verrinnender Zeit.
    Links von diesem Bild hing eines aus dem Jahr 2002. Es zeigte einen Strand in Okinawa, wo sie auf Hochzeitsreise gewesen waren. Passan hatte die Einzelheiten der Reise vergessen, aber noch immer sah er Naoko vor sich, wie sie am Flughafen aufgeregt ihre Karte zückte, auf der sie Flugmeilen eintragen lassen konnte. Naoko war ganz wild auf Ermäßigungskarten und geradezu süchtig nach Clubverkäufen. Bis heute erinnerte sich Passan daran, wie er sich damals geschworen hatte, für immer dieses naive Mädchen zu beschützen, das glaubte, sich gegen alle Eventualitäten absichern zu können.
    Hatte er sein Versprechen gehalten?
    Er knipste das Licht wieder aus, durchquerte das Wohnzimmer und stieg die Betontreppe hinunter.
    Es war an der Zeit, in sein Souterrain zurückzukehren – in die unterirdischen Privatgemächer, die einer Ratte wie ihm gebührten.

5
    Der Flur bestand aus weiß getünchten Ziegelsteinen. Links befanden sich ein Kellerraum und eine Waschküche mit Waschmaschine und Trockner. Rechts gab es eine Abstellkammer, in die er Wasser gelegt hatte, um ein eigenes Bad zu bekommen. Am Ende des Flurs befand sich der Raum, den er sich als Schlaf- und Arbeitszimmer eingerichtet hatte.
    In der Waschküche entkleidete er sich, stopfte die schmutzigen Klamotten in die Waschmaschine und schaltete sie ein. Schon seit Monaten lebte er völlig autonom, aß am Schreibtisch aus der Bento-Box und schlief allein.
    Nackt stand er vor der Waschmaschine und betrachtete seine blutbeschmierten Kleider, die im schaumigen Wasser herumgewirbelt wurden. Ein Gerät zum Zermalmen von Albträumen, fuhr es ihm durch den Sinn.
    Aus einem Korb nahm er ein T-Shirt und eine Unterhose, die beide nach Weichspüler dufteten, zog sie an und ging weiter in sein Zimmer, einen zwanzig Quadratmeter großen, mit Kellerfenstern ausgestatteten Raum mit Betonwänden. Auf der einen Seite stand ein Feldbett, auf der anderen, unter den Fenstern, hatte Passan ein Brett über zwei Böcke gelegt. Außerdem gab es noch eine Werkbank, an der er seine Waffen zerlegte und daran herumbastelte. In gewisser Weise entsprach der Bunker seinem Charakter besser als die weitläufigen Räume oben im Haus. Hier konnte er sich verkriechen.
    An den Wänden hatte Passan die Konterfeis seiner Idole aufgehängt. Da fanden sich Bilder des Schriftstellers Yukio Mishima, der 1970 im Alter von fünfundvierzig Jahren Harakiri begangen hatte, des Komponisten Rentaro Taki, der 1903 mit vierundzwanzig Jahren an Tuberkulose gestorben war, und des Regisseurs Akira Kurosawa, der neben Rashomon – Das Lustwäldchen noch viele weitere Meisterwerke gedreht hatte und nach dem Flop seines ersten Farbfilms Dodes’kaden – Menschen im Abseits 1971 einen Selbstmordversuch nur knapp überlebte. Nicht gerade eine sehr fröhliche Truppe.
    Passan schaltete seinen mit Lautsprechern ausgestatteten iPod ein,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher