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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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minimierte die Lautstärke und lauschte der Ekloge für Koto und Orchester von Akira Ifukube, einem unglaublichen Werk, das in Frankreich vermutlich nur er allein manchmal hörte. Passan liebte japanische sinfonische Kompositionen des 20. Jahrhunderts, die im Westen überhaupt nicht und selbst in Japan nur wenig bekannt waren.
    Zeit für einen Tee. In Tokio hatte Passan ein Gerät gekauft, das Wasser ständig auf einer Temperatur von neunzig Grad hielt. Er füllte seinen Teebecher und gab fünf Gramm Hojicha – gerösteten grünen Tee – hinzu. Während er die exakt dreißig Sekunden abwartete, die der Tee ziehen musste, zündete er ein Räucherstäbchen an und schwenkte es. Nie im Leben hätte er auf die glühende Spitze geblasen, denn für Buddhisten gilt der Mund als unrein.
    Mit der Tasse in der Hand legte sich Passan auf sein Bett und schloss die Augen. Der Klang des Koto, einer Art horizontaler Harfe, war ein hartes, gleichzeitig melancholisches und bitteres Vibrato. Passan hatte den Eindruck, dass jeder Ton seine Nerven direkt berührte. Zwar sorgte die Musik für einen dicken Kloß in seiner Kehle, doch gleichzeitig spürte er tief in seiner Brust eine beruhigende Kraft. Ihm war, als würde sein Geist federleicht und als könne sein Herz plötzlich wieder aufatmen.
    Japan.
    Mit der Entdeckung des Landes hatte Passan auch sich selbst entdeckt. Schon die erste Reise hatte sogleich Ordnung in seine Existenz gebracht.
    Passan war 1968 in Katmandu auf die Welt gekommen. Seine dem Chillum zugetanen Eltern hatten ihn im Rausch eines Trips zu Füßen eines Buddhas empfangen. Da sein Erzeuger zu viel Blut verkauft hatte, um sich Opium zu beschaffen, starb er ein Jahr später. Wenige Monate darauf verschwand seine Mutter, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Die französische Botschaft in Nepal veranlasste seine Rückführung nach Frankreich und brachte ihn bei der Fürsorge unter.
    Fünfzehn Jahre lang war er als Waisenkind in Heimen und bei Pflegefamilien aufgewachsen, hatte gütige Menschen und Ekelpakete kennengelernt und war sowohl guten als auch schlechten Einflüssen ausgesetzt. Die Schule hatte er abgebrochen. Er war auf die schiefe Bahn geraten, hatte Autos geklaut, Papiere gefälscht und Schutzgeld erpresst. Wie durch ein Wunder hatte er ohne größere Probleme mit der Polizei überlebt.
    Mit zwanzig war er dann plötzlich aufgewacht. Er hatte die Vorstädte im Westen von Paris verlassen, mit seinem ergaunerten Geld ein Dienstbotenzimmer im 5. Arrondissement in der Rue Descartes gemietet und sich an der Sorbonne gleich um die Ecke für Jura eingeschrieben.
    Drei Jahre lang hatte er sich auf seinen sieben Quadratmetern eingeschlossen, gebüffelt, von Hamburgern ernährt und seine Lektionen mit lauter Stimme und zur Decke gewandtem Gesicht auswendig gelernt. Außerdem hatte er sein Interesse an Kunst, Philosophie und klassischer Musik entdeckt. Diese Zeit wirkte wie eine Entziehungskur, und sein Geld ging dabei komplett drauf. Der Not gehorchend zog er in ein Studentenwohnheim um, wurde aber nie mehr rückfällig.
    Nach dem Examen entschied er sich für die Polizeischule, weil er sich auf diese Weise Zügel anlegen konnte, ohne ganz auf den Kitzel der früheren Umgebung verzichten zu müssen – die Nacht, das Adrenalin und die gesellschaftlichen Randzonen.
    Einer seiner Ersatzväter, ein Rentner, der früher bei Chausson in Gennevilliers gearbeitet hatte, sagte ihm einmal: »Ein Bulle ist eigentlich ein Gauner, der seinen Beruf verfehlt hat.« Wie wahr!
    Passan hatte beschlossen, sein Scheitern in einen Erfolg umzuwandeln. Für seine Berufswahl gab es noch einen anderen Grund: Als Kriminalbeamter hatte er die Möglichkeit, seinem Land zu dienen, dem er etwas zu schulden glaubte. Immerhin hatte der französische Staat ihn gerettet, ernährt und aufgezogen.
    Er absolvierte die achtzehnmonatige Ausbildung ohne Zwischenfälle und bekam in jedem Fach die Bestnote. Als es darum ging, sich für die weitere Laufbahn zu entscheiden, wählte er weder einen strategischen Posten im Innenministerium, noch eine vielversprechende Stelle in einer angesehenen Einheit, sondern bewarb sich um einen der im Ausland angebotenen Plätze als Verbindungsoffizier, Ausbilder oder im Nachrichtendienst. Passan, der bislang noch nie im Ausland gewesen war, nahm die Stelle an, die ihn am weitesten wegführte: die eines Assistenten des Verbindungsoffiziers in Tokio.
    Mit der Landung in Narita veränderte sich sein Leben von Grund
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